ENSEMBLE Nr. / N° 18 - Mai 2017

10 Dossier —– ENSEMBLE 2017/18 Interview mit Murali Thiruselvam, Grün- dungsmitglied des Vereins «Saivanerikoodam» und Priester am Hindutempel im Haus der Religionen am Europaplatz in Bern. Interview von Peter Gerber Welche Reformströmungen gibt es zurzeit in Ihrer Religion? Neu im Hinduismus ist, dass Frauen Aufgaben im Tempel übernehmen: In Bern wurden im Jahr 2015 die ersten vier Frauen zu Priesterinnen ge- weiht, in Sri Lanka hat kürzlich eine Ausbildung für Priesterinnen begonnen, und in London wird die Zulassung von Priesterinnen diskutiert. Eine weitere Reform, die ebenfalls in Bern entstanden ist und nun auch Sri Lanka erreicht hat, betrifft die Sprache: Die Ritualtexte werden auf Tamilisch statt im alten Sanskrit gesprochen. Heute stellen junge Hindus viel mehr Fragen als früher. Sie wol- len den Sinn einer religiösen Handlung verstehen. Da braucht es religiös, philosophisch und astrolo- gisch gut begründete Antworten. Worum geht es bei diesen Reformen? Bei der Weihe von Priesterinnen geht es um Gleichberechtigung. Shiva, die wichtigste Mani- festation des Höchsten im Hinduismus, ist je zur Hälfte Mann und Frau. Bei der Rückbesinnung auf die Muttersprache wollen wir die eigenen Wur- zeln, unsere kulturelle Identität bewahren. Refor- men sind leichter in einem Land wie der Schweiz umzusetzen, wo es Rechtssicherheit gibt und wo die reformierte Kirche selbst eine Reform inner- halb des Christentums darstellt. Was in Ihrer Religion ist nicht reformierbar? Das Verbot, Fleisch zu essen, kann im Hindu- ismus nicht aufgehoben werden. Und es ist wich- tig, am traditionellen Familienverständnis festzu- halten. Wie geht Ihre Religionsgemeinschaft mit innerer Vielfalt um? Der Hinduismus war schon immer sehr vielfäl- tig. Es gibt 18 heilige Schriftsammlungen! Jeder Mensch hat andere Erfahrungen aus früheren Leben mitgenommen. Da ist es nur natürlich, dass unter- schiedlich geglaubt wird. Und dies gilt es zu res- pektieren. In unserem Tempel im Haus der Religi- onen finden sich mehrere Gottheiten, welche die Gläubigen unterschiedlich stark verehren. Bei die- sen Unterschieden versuchen wir neutral zu sein. Wann kommt es in Ihrer Religion zu Konflikten? Eine Heirat zwischen Angehörigen verschiede- ner Kasten war früher undenkbar, heute ist dies, R E F O R M E N I M H I N D U I S M U S «Viel mehr Fragen als früher» «Der Hinduismus war schon immer sehr vielfältig»: Hinduzeremonie im Haus der Religionen, Bern, mit Priester Murali Thiruselvam (links). «L’hindouisme a toujours été marqué par une grande diversité»: ici, cérémonie hindoue avec le prêtre Murali Thiruselvam (à gauche) à la Maison des religions (Berne). ©Adrian Hauser

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