ENSEMBLE Nr. / N° 18 - Mai 2017

17 ENSEMBLE 2017/18 —– Dossier Interview mit Jessica Graber, Vertreterin für auswärtige Angelegenheiten der Bahá’í- Gemeinde Schweiz. Interview von Laurence Gygi Luard Welche Reformströmungen gibt es zurzeit in Ihrer Religion? Der Bahá’í-Glaube ist «jung», und daher gibt es kaum Reformbedürfnisse. Die Bahá’í befinden sich viel eher in einer Periode, die gekennzeichnet ist von einem dynamischen und evolutionären Lernprozess, der darauf abzielt, die göttlichen Lehren von Bahá’u’lláh in die Tat umzusetzen. Worum geht es bei diesen Reformen? Die Bahá’í verstehen alle Götterboten, welche die grossen traditionellen Religionen begründet haben, als «Strahlen einer einzigen Sonne». Wir glauben, dass jede dieser Religionen progressiv und entsprechend dem göttlichen Plan offenbart wurde, um jene Erneuerungen und Reformen ein- zuleiten, welche die Menschheit benötigte, um ihre Evolution fortzuführen. Wenn die Religion ein Baum war, so pflanzten die Götterboten – jeder zu seiner Zeit – neue «Samen der Wirklichkeit» in die Herzen der Menschen, und jedes Mal, wenn die Menschheit eine Erneuerung braucht, wächst ein neuer Baum heran. Was in Ihrer Religion ist nicht reformierbar? Im Bahá’í-Glauben gibt es keinen Klerus. Das führt dazu, dass jedes Individuum die Verantwor- tung bei der Suche nach der Wahrheit persönlich übernimmt. In mehreren seiner Episteln bekräftigt Bahá’u’lláh den Unterschied zwischen allegori- schen Versen, die einer Auslegung bedürfen, und Versen, die einen Bezug aufweisen zu Themen wie Gesetze und Verordnungen oder die Anbetung und den Ablauf der Gottesdienste, welche der Zustimmung der Gläubigen bedürfen. Wie geht Ihre Religionsgemeinschaft mit innerer Vielfalt um? Die Vielfalt wird als eine echte Bereicherung für die Bahá’í empfunden. Sie trägt zum umfas- senden Verständnis aller bei und regt das Gemein- schaftsleben an. Jeder wird dazu ermutigt, seine Gedanken als Beitrag zum gemeinsamen Wissen einzubringen. Wenn eine Diskussion nötig wird, initiieren die Bahá’í-Gemeinschaften einen ge- meinsamen Dialog. Bei diesen Erörterungen ist der Wert der Vielfalt untrennbar verknüpft mit dem Ziel der Einheit – einer Einheit, welche die Unterschiede berücksichtigt und sich darum bemüht, diese zu transzendieren, um zu einer Übereinkunft zu gelangen, einem Entscheid, der anschliessend von allen mitgetragen wird. Wann kommt es in Ihrer Religion zu Konflikten? Diese treten vor allem dann auf, wenn einzel- ne Individuen versuchen, bei der Auslegung der Schriften ihren persönlichen Einfluss geltend zu machen. Tritt eine Meinungsverschiedenheit auf, welche die Gesetze und Verordnungen betrifft oder die Anbetung und den Ablauf der Gottes- dienste, so erbitten die Bahá’í Klärung von den lokalen, nationalen oder internationalen Bahá’í- Institutionen. Wie gehen Sie persönlich mit der Vielfalt in Ihrer Religion um? Die Vielfalt zu leben, indem jeder höflich und respektvoll behandelt wird, ist ein echtes Ge- schenk, sowohl für mein persönliches spirituelles Leben als auch für mein Engagement im gemein- schaftlichen Leben. R E F O R M E N I M B A H A I S M U S «Einheit der Menschheit» «Jedes Mal, wenn die Menschheit eine Erneuerung braucht, wächst ein neuer Baum heran»: Jessica Graber. «Un nouvel arbre croît à chaque fois que l’humanité a be- soin de renouveau» (Jessica Graber). ©Laurence Gygi Luard

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