ENSEMBLE Nr. / N° 18 - Mai 2017

20 Fokus —– ENSEMBLE 2017/18 meinde Schwarzenburg bei der Suche nach Wohnraum für Flüchtlinge auf das leer stehende Hotel Hirschen in Riffenmatt. Julia las in der Zeitung, dass drei afghanische Familien in den «Hirschen» einziehen, und meldete sich als Freiwillige. Aus einem unverbindlichen Kontakt wurde Freundschaft, aus Freundschaft wurde Familie. Julia: Ich habe schon bald gemerkt, dass es der Familie D. nicht nur ums Deutschlernen geht. Sie hatte viele Fragen zum Alltag. Die Gegend hier ist ländlich, dementsprechend stark ist die soziale Kontrolle – mit allen Vor- und Nachteilen. Es wird erwartet, dass man sich anpasst. Hier helfe ich, Roya und Farid aufzuzeigen, was man von ihnen erwartet. Zum Beispiel? Julia: Anfänglich hatten sie die Fensterläden in der Wohnung oft geschlossen. Da besteht die Gefahr, dass Missverständnisse entstehen – dass diese Flüchtlinge nicht lüften, nicht sauber seien. Wegen dieser Mutmassungen kann vergessen ge- hen, dass die Flüchtlinge nette, normale Leute sind wie wir auch. Wie geht ihr mit dieser sozialen Kontrolle um? Farid: Ich empfinde sie nicht als Druck. Es ist normal, dass man sich anpassen muss – egal, wo man lebt. Roya: Julia vermittelt uns Schweizer Werte und Normen. Darüber bin ich froh. Lebt ihr eure eigene Kultur denn noch? Roya: Klar, sicher. Wir feiern unsere religiösen Feste und haben nach wie vor Kontakt zu afgha- nischen Freunden. Julia: Ich sehe, wie die Familie D. immer mehr unsere Werte annimmt. Ich erlebe Integration aber auch als ein Risiko. Wir Schweizer sagen oft: «Integriert euch erst mal – und dann haben wir Kontakt zu euch.» Doch Integration ist ein langer Weg. Die Familie D. entfernt sich von ihrer Kultur, ist bei uns nach hiesigem Gutdünken aber noch nicht gänzlich «integriert». In solch einer Situation ist man zwischen Stuhl und Bank, gehört nirgends dazu. Wenn sie keinen Ansprechpartner haben, sind Flüchtlinge auf ihrem Integrationsweg allein- gelassen. Hier versuche ich, die Familie D. Schritt für Schritt zu begleiten. Forderst Du, Julia, denn die totale Anpassung? Julia: Nein. Aber ich denke, jede Entscheidung, jedes Verhalten hat seine Konsequenzen. Doch jemand muss erklären, was diese Konsequenzen überhaupt sind. Entscheiden müssen die Betrof- fenen dann selbst. Roya, Du trägst ein Kopftuch. Ist dies so eine be- wusste Entscheidung? Roya: Ja. Julia hat mir erklärt, dass viele Men- schen in der Schweiz das Kopftuch mit Unter­ drückung assoziieren. Doch für mich stimmt es aus religiöser Überzeugung, das Kopftuch zu tra- gen. Also trage ich es weiterhin. Dennoch haben die Gespräche mit Julia etwas bewirkt: Ich bin wöchentlich mit den Kindern in eine Spielgruppe gegangen. Da wollte der Kontakt zu den anderen Müttern am Anfang nicht so recht klappen. Als ich das Kopftuch dort ablegte, war der Umgang viel leichter und offener. Julia, was hast du von Roya und Farid gelernt? Julia: Vieles. Ich lernte, mein Leben hier mehr wertzuschätzen. Ich wurde flexibler, die alltägli- chen Probleme haben einen kleineren Stellenwert. Und wir diskutieren viel. Die Familie D. lehrte mich auch, über Schweizer Werte nachzudenken. Flüchtlingssonntag 2017 Am 18. Juni findet der nationale Flüchtlings- sonntag statt. Das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz HEKS ruft dazu auf, geflüchte- ten Menschen mit Offenheit zu begegnen und sie dabei zu unterstützen, in der Schweiz einen Neuanfang zu schaffen. Weitere Infos unter: www.heks.ch/fluechtlingssonntag www.farbe-bekennen.jetzt F Lorsqu’il est question de réfugiés, le mot «intégration» y est presque toujours asso- cié. Mais quelle est sa signification exacte? Ten- tative d’explication à travers une conversation. Par Selina Stucki – Au fin fond de la campagne, à vingt minutes en bus de Schwarzenburg, elle est là, joliment nichée dans une combe: la ferme de Julia et Henri Läderach de Blaazer. Dans la cour, à côté du compost, ce n’est pas le proprié- taire des lieux qui nous attend, mais un jeune Afghan en bottes de travail. Il tamise de la terre pour sa couche à semis qu’il a fabriquée avec Henri quelques jours auparavant. Farid D.*, père de deux petits garçons, a fui le pays où il vivait et s’est réfugié en Suisse il y a environ deux ans, avec sa femme Roya, alors enceinte, et leur fils aîné. Nous nous installons au soleil dans le jardin. Le jeune couple afghan boit du thé, les Suisses du café. * prénoms d’emprunt

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