ENSEMBLE Nr. / N° 18 - Mai 2017

6 Dossier —– ENSEMBLE 2017/18 rasch aus demWeg geräumt wurden. So habe man beispielsweise oft darüber aufgeklärt, dass die Geldmittel mehrheitlich aus eigenen Spenden­ aktionen und nicht aus kirchlichen Hilfszahlun- gen stammten. Polarisierung und Gelassenheit Deutlich weniger glatt laufen derzeit Reformver- suche im Islam ab. Die muslimische Theologin, Imamin und Feministin Rabeya Müller aus Köln streifte in ihrem Vortrag mehrere Koransuren, die eine aufgeschlossene Haltung hinsichtlich der menschlichen Vernunft im religiösen Erkenntnis- prozess sowie bezüglich der Rolle der Frau er­ THEORIE VON REFORMEN IN DEN WELTRELIGIONEN Wie kann sich eine Reformkultur in den Religionen etablieren? Welche Elemente müsste eine Theorie der Reformen in den Weltreligionen beinhalten? • Leidensdruck: «Wer am Islam nicht verzweifelt, liebt ihn nicht.» Der Satz stammt von Navid Kermani. Er bringt zum Ausdruck, dass Reform­ anstrengungen auf einer innigen Vertrautheit mit einer Religion fussen müssen. Das hoffen- de Vertrauen auf ihre erneuerte Wirklichkeit verlangt die Liebe zu seiner vorläufigen Ge- stalt. • Profilbildung: Religionen brauchen Standfes- tigkeit, um beweglich sein zu können. Rabeya Müller plädierte an der Tagung für eine «Pfleg- lichkeit im Umgang mit der Tradition» des Is- lam, so sei die direkte Offenbarung des Koran durch Gott nicht infrage zu stellen. • Theoretische Offenheit: Gefordert wurde eine eigentliche Theologie der Pluralität (Reinhard Schulze, Islamwissenschaftler), die der Aner- kennung der Vorzüge von Verschiedenheit Vorschub leiste(t). • Praktische Offenheit: Über den akademischen Rahmen hinaus heisst Offenheit, Unterschiede mit Selbstbewusstsein, Gelassenheit und Humor integrieren zu können. • Bewegliche Organisationsform mit starkem Zen- trum: Eine zentralistische Struktur von Reli­ gionen wie jene der katholischen Kirche ist tendenziell reformhemmend. Eine zu lose Struktur fördert die Polarisierung zwischen doktrinären und liberalen Strömungen. Ten- denziell reformfördernd sind Religionen mit einem starken Zentrum, das der Peripherie und der Diaspora expliziten Freiraum lässt. • Gesunde Nähe zum Staat: Reformbereite Reli- gionsgemeinschaften treten zum Staat pro­ aktiv in Beziehung. Er ist für sie mit seiner Gestaltungskompetenz hinsichtlich sozialer Kohäsion und Sicherheit das wichtigste Kor- rektiv. Der Staat kann den Religionen ein «Gütesiegel» (Schulze) verleihen, wenn sie gesellschaftlich integrierend wirken. Hiesige Minderheitsreligionen wie Islam oder Hindu- ismus streben tendenziell eine staatliche Anerkennung an. Demgegenüber ist die tra- ditionell eng mit dem Staat verbandelte Re- formierte Kirche mit der Aufgabe beschäftigt, ihre Beziehung zu jenem lockern zu müssen. Dies zwingt sie dazu, profilverwischende Sicherheiten aufzugeben und die eigene Pro- filbildung voranzutreiben. • Mut: Stark reflexiv geprägte Religionsgemein- schaften riskieren, Reformen ängstlich zu zer- reden. Gefordert ist Mut zur Tat, über mögliche Widerstände hinaus. Eine Kultur der Tatkraft würdigt und fördert Reformschritte. kennen liessen. Imam Mustafa Memeti von der Moschee im Haus der Religionen widersprach in seiner Replik der Reformmuslima imWesentlichen nicht. An seiner Unruhe erkannte man aber den Druck des derzeit vorherrschenden konservativen Mainstreams, der auf Memeti lastet. Kurz nach der Eröffnung der Moschee im Haus der Religionen hatte eine Fatwa von konservativ-muslimischen Rechtsgelehrten das dortige Gebet für illegitim und ungültig erklärt. Eine nochmals völlig andere Färbung des Reformdiskurses zeigten drei Rabbiner auf. Im Gegensatz zur Schwere eines polarisierten Re- formdialogs im Islam offenbarten Michael Kohn ©Stefan Maurer Podiumsdiskussion im Haus der Religionen, Bern. Débat à la Maison des religions (Berne).

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