ENSEMBLE Nr. / N° 22 - Oktober / Octobre 2017

16 Dossier —– ENSEMBLE 2017/22 Ab Ende September verbreitet der Schweize- rische Evangelische Kirchenbund (SEK) so- genannte Glaubenstweets auf sozialen Medien als Beitrag zum Reformationsjubiläum. Doch was sollen sie uns sagen? Von Frank Mathwig* Wie feiern Sie Ihre Freiheit? Das ist eine ähnlich seltsame Frage wie diejenige danach, was der Wind tut, wenn er nicht weht. Wir feiern ausser- gewöhnliche Ereignisse und die Erinnerung daran, nicht aber Selbstverständlichkeiten. Es gibt keine Gründe, um sich an völlig Vertrautes zu erinnern und darüber nachzudenken, wo es herkommt und wem wir es verdanken. Der Wert des Selbstver- ständlichen kommt erst dann in den Blick, wenn es aufgehört hat, selbstverständlich zu sein. Selbstverständliche Freiheiten? Die Erinnerung an die Reformation vor 500 Jahren bricht mit solchen Gewohnheiten und lenkt die Aufmerksamkeit auf das Selbstverständliche: die Vorstellung von der Glaubens- und Gewissensfrei- heit, aus der sich viel später die moderne Idee der Menschenrechte entwickelte, die Forderung nach Bildung für alle, die synodale Organisation der Kirche als Musterbeispiel demokratischer Struk- turen, die Säkularisierung von Beruf und welt­ lichen Institutionen als Impulsgeber für die mo- derne arbeitsteilige Gesellschaft usw. Während sich diese reformatorischen Folgen zu Fundamen- ten unserer Kultur und Gesellschaft verselbstän- digten, gerieten die Motive und Gründe dahinter immer mehr in Vergessenheit. Wir beanspruchen ganz selbstverständlich die Freiheiten, die wir den damaligen Aufbrüchen verdanken. Aber die Ab- sichten und Ziele dieser revolutionären kirch­ lichen Befreiungsbewegung sind vielen fremd geworden. Ekklesiologischer Camper Gegen dieses kollektive Vergessen erinnern die Kirchen an die Reformation. Ungeachtet aller, aus dem Alltag weder wegzudenkenden noch wegzu- wünschenden Folgen ging es den Reformatoren um etwas ganz anderes: Sie wussten, dass nichts so bleibt, wie es ist – nicht einmal die Kirche. «Zurück auf Vorwärts», lautete ihr Motto, das nichts von seiner Aktualität verloren hat. Die viel zitierte Formel «semper reformanda», die Offen- heit für die permanente Erneuerung, ist keine reformatorische Erfindung. Sie entspringt der biblischen Einsicht, dass es nur einen Herrn der Kirche und Welt gibt: «solus» Jesus Christus. Alle menschlichen Bemühungen bleiben vorläufig und sind allenfalls Mittel in Gottes Bauplan für seine Welt und Kirche. Der reformatorische Mut, die Gestaltung der Kirche und Welt in die Hände aller Menschen zu legen, wäre blanker Übermut ohne das Wissen, dass es Gottes Kirche und Welt ist und bleibt. Auch die aus Stein gebauten Kathedralen sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Folgerichtig war der Genfer Reformator Johannes Calvin ein ekklesiologischer Camper und kein kirchlicher Monumentalarchitekt. Die Glaubenstweets greifen diese Rückseite der politischen und gesellschaftlichen Errungenschaf- ten der Reformation auf, die eigentlich die Vorder- seite ist, auf die es ausschliesslich ankommt. Die Botschaften sind geistliche Powerdrinks für die wandernde Kirche. Sie befreien von dem Ballast, der das wandernde Gottesvolk auf seiner Reise un- nötig belasten oder sein Vorwärtskommen unmög- lich machen würde. Und selbstverständlich stellen die Tweets alle unsere liebgewordenen Selbstver- ständlichkeiten auf den Kopf. G L A U B E N S T W E E T S K I R C H E N B U N D Freiheit feiern?! Tweet me! Die Glaubenstweets werden ab 25. September 2017 veröffentlicht und laden zum Nachdenken über den eigenen Glauben ein. Alle interessierten Personen können die Bei- träge auf Twitter (twitter.com/sekfeps ) und Facebook ( www.facebook.com/sek.feps) teilen. Reformatorische Verkehrspolitik: ohne Staus und Umleitungen direkt zu Gott * Beauftragter für Theologie und Ethik SEK ©SEK

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc3MzQ=