ENSEMBLE Nr. / N° 22 - Oktober / Octobre 2017

4 Dossier —– ENSEMBLE 2017/22 Auch ein halbes Jahrtausend nach dem Bildersturm bringt der reformierte Glaube Bilder hervor. Künstler kreieren Werke zum Reformationsjubiläum, Pfarrerinnen bauen auf prägenden Bildern auf. Was verraten sie über Zustand und Potenzial der reformierten Kirche? Von Remo Wiegand* Kurz nach Luthers Thesenanschlag fegte der Bil- dersturm über Europa hinweg. Auch in der Schweiz wurden Bilder, Gemälde und Skulpturen aus den Kirchen verbannt. Alles, was stellvertre- tend für den allein in der Bibel geoffenbarten Gott Verehrung erfuhr, sollte von der Bildfläche einer Kirche verschwinden, die allein das Wort ins Zentrum stellte. Doch trotz einer reichen Predigtkultur, trotz bahnbrechender biblischer Erkenntnisse, trotz al- ler berechtigten Skepsis gegen missbräuchliche Bildwelten: Die reformierte Kirche konnte und kann sich der Bilder nicht erwehren. Der Glaube nimmt Gestalt an, er bekommt eine Form. Men- schen suchen Geborgenheit und Beheimatung in Räumen, schlüpfen in Bilder, die sie anziehen. Bilder drängen umso mehr ins Bewusstsein, je mehr sie im Namen einer bildfeindlichen Gottheit verbannt werden. Ein menschen- und weltzuge- wandter Glaube kann sie nicht ignorieren. Be- trachten wir einige Darstellungen reformierten Glaubens von heute, zu denen ein Künstler, ein Vikar, eine Pfarrerin und ein Universitätsdozent beigetragen haben. Reformierte Bildwelten An einer reformierten Kirche einer Schweizer Kleinstadt hängen unzählige pralle, gräulich schimmernde, fest zusammengezurrte Luftbälle. Sie schlängeln sich um den Kirchturm, umschlies- sen das stolze, starre Monument wie ein lebendig- pulsierender Froschlaich – oder wie flüchtiger Schaum. Einige Bälle «durchbrechen» die Kirchen- mauern, stossen unterhalb des Chorfensters ins Innere vor. Die neugotische Kirche ist ansonsten leer. Schön leer. Es ist keine menschenleere Kirche, die ihren eigenen Bedeutungsverlust betrauert, sondern ein selbstbewusst schlichter Raum, der jeglicher spirituell-religiösen Effekthascherei eine Absage erteilt. Im Tiefparterre des benachbarten Kirchge- meindehauses liegt ein Gruppenraum: Sichtbe- ton, olivgrüner Spannteppich, 70er-Jahre-Ästhe- tik. Es ist muffig. Eine Gruppe von Leuten sitzt um einen Tisch und trinkt Apfelschorle. In der Mitte liegen einige Blätter. Die Leute sprechen mitein- ander, harmonisch, kaum kontrovers. Stirnfalten verraten ein Bemühen um angemessene Ernst- haftigkeit. An der Wand des Gruppenraums hän- gen zwei Bilder. Auf dem einen dominiert ein Buch, dessen geöffnete Seiten wie die zwei Flügel eines Vogels – einer Taube? – wirken, darunter eine wilde Kritzelei, darüber bunte, aber geord- nete Buchstaben und Worte. Auf dem zweiten Bild: eine Kalligrafie arabischer Buchstaben, die als Boote auf dem Meer schwimmen. Segel sind in Richtung der weiss-gleissenden Sonne gehisst, auf die die Boote zusteuern. Das Meer unter den Buchstaben wirkt schwungvoll aufgewühlt – und gezähmt zugleich. Leichtigkeit und Schwere Was sind die möglichen Kernaussagen dieses Ge- samtbildes, dessen Einzelteile der Autor mitein- ander verwoben hat? Was sagt es über die refor- mierte Kirche aus? Ein Interpretationsversuch: In der Luft liegt – sprichwörtlich – das grosse Thema der Reformation: die Freiheit. Der Künstler Micha Aregger hat die Installation «Atemwolke» geschaf- fen, die im Reformationsjubiläumsjahr verschie- dene reformierte Kirchen im Raum Luzern ziert. EIN BILD VON EINER KIRCHE REFORMATIONSJUBILÄUM 2017 UNE IMAGE D’UNE ÉGLISE JUBILÉ DE LA RÉFORME 2017 * Freischaffender Journalist und Theologe

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