ENSEMBLE Nr. / N° 22 - Oktober / Octobre 2017

6 Dossier —– ENSEMBLE 2017/22 Die aufgeblasenen Bälle verweisen für den Künst- ler auf das gottgegebene Material der Luft, das alle Menschen verbindet. Eine himmlisch-luftige Leichtigkeit und Verspieltheit umgibt die Atem- wolke, die zugleich die Schwere einer frontal- sprachlichen Glaubensvermittlung freilegt. Der Freiraum, für den die Luft steht, erinnert implizit auch an die reformatorische Freilassung der Kunst aus der sakralen in die weltliche Sphäre, die einen immensen Kreativitätsschub auslöste. Der Glaube der Freiheit schafft so bis heute Gegensätze, die in bleibender Verbundenheit zusammen schöpfe- risch wirken. Das Gegenstück der Atemwolke spielt im muf- figen Gruppenraum des Kirchgemeindehauses. Das Bild entstammt der Vorstellung des jungen Theologen Dominik von Allmen, der eben sein Vikariat in Bürglen bei Biel begonnen hat. Von Allmen gibt seinem Bild den ironischen Titel «Protestantische Spiritualität». Es demaskiert das Treffen als kopflastiges Gruppengebet, dessen ge- meinsames Signum das Stirnrunzeln ist. Ein un- gezwungenes, lebendiges Miteinander will nicht aufkommen. Was fehlt, damit auch diese «eccle- siola», diese Kirche im Kleinen, zum Leben er- wacht? Lebendige Buchstaben Die Bilder, die im imaginierten Gesamtbild an der Wand des Gruppenraums hängen, können als Ant- wortversuch verstanden werden. Sie entspringen der Erinnerung der Bieler Pfarrerin Kathrin Reh- mat, die selber mehrere künstlerische Projekte zum Reformationsjubiläum mitinitiiert hat; er- blickt hat Rehmat die Bilder anlässlich des Kir- chentags in Berlin. Beide erinnern an das Befrei- ungserlebnis, das im Lesen liegt, speziell an das Turmerlebnis des Mönchs Martin Luther, dem in der Lektüre des Römerbriefs endlich ein gnädiger Gott entgegenkam. Unzählige Menschen erfuhren im Nachgang der Reformation die emanzipato­ rische Kraft der Bibel, aber auch von Bildung und Büchern im Allgemeinen. Warum aber wirken die Texte, um die sich das reformierte Gesprächsgrüppchen versammelt, nicht ähnlich befreiend? Vielleicht, weil noch die besten Bücher ihre tiefen Geheimnisse nicht in gemeinsamer Lektüre preisgeben, sondern wie bei Luther im intimen Tête-à-Tête zwischen Leser und Autorin? Vielleicht gibt auch der Raum zwischen muffigem Kirchgemeinde-Untergeschoss und Atemwolke-geschmücktem Kirchturm eine Ant- wort: der schlichte reformierte Kirchenraum. Uni- sono loben alle angefragten Gesprächspartner dessen würdevolle Leere, die glanzlose Nüchtern- heit, die Sperrigkeit gegenüber jeglichem Pomp. Für Johannes Stückelberger, Dozent für Religions- und Kirchenästhetik an der Universität Bern, ist eine reformierte Kirche in ihrer Bildlosigkeit die «visuelle Manifestation der befreienden Botschaft, die dem reformierten Glauben zugrunde liegt». Hier kann mensch einfach sein, muss nichts tun, nichts leisten. Er wird mit leeren Händen geliebt und zur vorbehaltlosen Selbstliebe befreit. Er kann die pure Gnade des Daseins atmen, wie die Luft, die alle Menschen verbindet. Orte der Wandlung Leere Räume sind anziehend, weil wir voll sind mit Vergangenem. Schmerzhaftem. Trennendem. Die reformierte Kirche, selber Frucht eines Tren- nungsdramas, kennt selbst solche «Leichen im Keller». Sinnigerweise wird in ihren Räumen bis heute Getrenntheit reproduziert und reinszeniert, so auch im muffigen Untergeschoss des Kirchge- meindehauses. Menschen finden nicht zueinan- der. Wo das geschieht – und es passiert alltäglich – und wahrgenommen wird, kann ein spirituelles Intermezzo oder Finale befreiend wirken. Der lee- re Kirchenraum, zukunftsoffen und hoffnungsge- tränkt, bietet sich als geschützter Ort dafür an. In Stille, vielleicht im Gebet kann Ungesagtes, Ge- fühltes, Verletzliches an die Oberfläche schwap- pen. Im Aufatmen, in Annahme und Verwandlung, die darin erfahren werden kann, vollzieht sich zwischenmenschliche Nähe, geschieht Gott. Ein Bild sagt mehr als die rund tausend Worte, die Sie bis hier gelesen haben. Bilder sind eine Selbstvergewisserung, sie bestätigen den Wert und die Weisheit einer Wirklichkeit. Die refor- mierte Kirche telquel, fern jeglicher Überlebens- ängste, fern eines dauerreformatorischen oder missionarischen Aktivismus, kann sich sehen lassen. «Geöffnete Seiten wie die zwei Flügel eines Vogels»: Bild eins im imaginären Gruppenraum. «Pages ouvertes comme les ailes d’un oiseau»: image d’un ta­ bleau d’ensemble imaginaire. ©Kathrin Rehmat /Künstler unbekannt

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