ENSEMBLE Nr. / N° 24 - Dezember / Décembre 2017

22 Fokus —– ENSEMBLE 2017/24 Zeit absolvierte ich mein Vikariat und wurde dann in der Kirche von Berlin-Brandenburg ordiniert. 1997 erhielt ich eine Berufung als Professorin für Biblische Theologie und Exegese nach Paderborn, die ich kurzzeitig wahrnahm, ehe ich mich dann 1998 für einen Ruf an das «Union Theological Se- minary» in New York entschied. Dies ist bis heute in Bezug auf Lehrende und Studierende die offens- te und aufbruchfreudigste theologische Ausbil- dungsstätte, die ich kenne. Wissenschaftlicher Anspruch und kritisches soziales Engagement werden nicht als Gegensatz gedacht. Ich fand den hier noch wehenden Geist von Dietrich Bonhoef- fer, Paul Tillich, Dorothee Sölle und James Cone weitaus inspirierender als die inzwischen in sehr konservative Bahnen zurückgekehrte deutsche Hochschullandschaft. Es ist eigenartig, dass ich ausgerechnet in den USA ein Stück verlorener Hei- mat wiederfand, was befreiungstheologische, fe- ministische, imperiumskritische, postkoloniale und nicht antisemitische Bibelauslegung betrifft. Nächsten Herbst wollen Sie die politische Situati- on in den USA gemäss den Paulusbriefen analysie- ren. Welche Veränderungen werden in diesem Text vorgeschlagen? Paulus ist über die Jahrhunderte kirchlicher Auslegung vorwiegend als Protagonist von gesell- schaftlichem Konservatismus, Anti-Judaismus und Frauenfeindlichkeit gelesen worden. Seine Lehre von der Rechtfertigung «allein aus Glauben» und «ohne Werke» war allzu oft das theologische Fei- genblatt für kirchliche Tatenlosigkeit gegenüber sozialer Ungerechtigkeit und Ausgrenzung. Häufig auch wurde der «befreiungstheologische» Jesus der Evangelien vom «dogmatischen» Paulus mundtot gemacht. Im Lichte neuerer Entwicklungen in der Paulusforschung ist dieses Bild nicht mehr haltbar. Paulus ist, nicht anders als Jesus, ein Theologe der Transformation und Reformation. Er glaubt, dass die Welt im Begriff ist, sich zu erneuern, und dass diese «andere Welt» mit allen Fasern des Glaubens verwoben sein und festgehalten werden muss. Der Testfall dafür ist unser Verhältnis zu den «Anderen». Für Paulus sind das konkret die unbeschnittenen nicht jüdischen «Heiden» oder auch die nicht grie- chischen «Barbaren». Glaube als Existenzform des «Mit-Ein-Ander» steht im Gegensatz zu einem Glau- bensbegriff, der das blosse Fürwahrhalten von Glaubensformeln beinhaltet. Damit bekommt auch «Rechtfertigung aus Glauben allein» einen neuen Haftpunkt, durch den diese in der gegenwärtigen politischen Situation der USA in Widerspruch zu den neuen Machtträgern gerät. Was bedeutet Reformation generell im Kontext ihres Landes, beispielsweise im Hinblick auf die Globalisierung und die Wahl des neuen Präsiden- ten Donald Trump? Trump ist nur die Spitze des Eisbergs. Als mil- lionenschwerer «Superheld» konnte er sich der vom Clinton-Establishment enttäuschten weissen Mit- telklasse und zum Teil auch der abgehängten Ar- beiterschaft als kapitalistischer Erlöser verkaufen. Er gibt den destruktivsten und beängstigendsten Unterströmungen im amerikanischen Kulturgefü- ge einen explosiven Freiraum, den sie in dieser Form bislang noch nicht hatten: von schamlos frauenfeindlichem Patriarchalismus, weissem Ras- sismus und aggressivem Nationalismus über Isla- mophobie, Homophobie und Xenophobie bis hin zu Ku-Klux-Klan und offenem Faschismus. Er ist nicht, und er ist doch Amerika. Das Land ist bis an seine Wurzeln vergiftet von der Ideologie des un- eingestandenen Landraubes und Genozids an den Ureinwohnern. Diese «Landnahme» wurde als gött- lich verbrieftes Recht verstanden und mit der Bibel begründet. Aus der Bibel leitet man bis heute auch Amerika als Gottes «auserwählte Nation» vor allen anderen Völkern ab. Hier liegt eine grosse reforma- torische Herausforderung für die Kirchen. Welche Reformen braucht die Wirtschaft? Was sind die Herausforderungen in Bezug auf den Umweltschutz, die Frauen oder auf Menschen in Armut? Es stellt sich natürlich die Frage, ob der Kapi- talismus noch als das geeignete System anzusehen ist, um den sozialen, ökonomischen und ökologi- schen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Die wachsende Attraktivität eines de- mokratischen Sozialismus hat sich während der letzten Wahlen deutlich an den erstaunlichen Zustimmungsquoten für Bernie Sanders gezeigt. Aber auch Politiker wie Al Gore dringen auf grund- legende und schnelle Veränderungen in der Ener- gie- und Umweltpolitik. Die von Trump im ersten Regierungsjahr eingeleiteten Massnahmen zei- «Trump ist nur die Spitze des Eisbergs.» «Trump n’est que la pointe de l’iceberg.» © Reuters /Carlos Barria

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