ENSEMBLE Nr. / N° 25 - Januar / Janvier 2018

13 ENSEMBLE 2018/25 —– Dossier dere Richtung. Die Patienten durchleben Phasen, die sehr widersprüchlich sein können. Annehmen und Zuversicht können wenige Augenblicke später in Auflehnung oder Wut umschlagen. Sie helfen also diesen Menschen, die einzelnen Schritte zu machen? Die Sterbebegleitung ist eigentlich eine Lebens- begleitung. Ein Gespräch mit einer Person, die im Sterben liegt, unterscheidet sich nicht wirklich von einem Gespräch mit einer Person, die im Spital eine depressive Phase durchlebt. Man muss sehr aufmerksam sein und ein offenes Ohr haben. Ich versuche, diese Momente oder Emotionen so un- verfälscht wie möglich mitzuerleben und zu teilen. Wenn das Gespräch gut verläuft, wird mir der Gesprächspartner zum Abschluss sagen: «So habe ich die Dinge noch gar nie gesehen.» Wenn man nämlich mit dem eigenen Tod konfrontiert wird, hat man oft eine ganz bestimmte, klar umrissene Sichtweise. In einem Gespräch kann man diese Perspektive aufbrechen und schafft es manchmal sogar, dass die Betroffenen die Sicht auf ihr ganzes Leben öffnen. Das kann positive Ressourcen frei- setzen, die es ermöglichen, die Herausforderungen von Leiden und Tod anzunehmen. Entspricht die Sterbebegleitung einem Bedürfnis? Das ist sicher so, und zwar vonseiten der Betrof- fenen wie auch vonseiten der Angehörigen. Ob- wohl es heute in Horrorfilmen oder Krimis Tote zuhauf gibt, wird nur wenig über den Tod nachge- dacht. Viele Menschen finden sich nicht mehr zu- recht, wenn sie direkt betroffen sind. Ich glaube schon, dass es hilft, von jemandem begleitet zu werden, das müssen aber nicht zwangsläufig Seel- sorgende sein. Ein Freund, der diesen Moment mu- tig teilt, der offen spricht, kann ebenfalls eine Un- terstützung sein. Ich denke nicht, dass das Leben bis in den letzten Atemzug hinein geregelt sein muss. Ich würde mir vielmehr wünschen, dass jeder seinen eigenen Weg findet in dieser letzten Lebens­ etappe. Man versucht, seine Identität zu ergründen, wie man das auch zuvor schon gemacht hat. Dabei kann man auch auf Abwege geraten. Sind Ihre Patienten alle reformiert? Mehrheitlich schon, ja. Aber der Glaube oder die Religion spielen bei meiner Herangehenswei- se keine Rolle. Es können auch Atheisten zu mir kommen, die Gespräche laufen ohne Gebete, Bi- bellesungen oder religiöse Rituale ab. Ich bin nicht missionarisch veranlagt. Wenn man mir kein deutliches Zeichen gibt, verzichte ich auf das Ge- bet. Falls wir aber beten, schliesse ich oft mit ei- nem «Vaterunser». In solchen Situationen finde ich diesen Moment der Gemeinschaft besonders eindrücklich. Und was bedeutet die Sterbebegleitung für Sie ganz persönlich? Wie gesagt: Für mich ist das keine Sterbe-, son- dern vielmehr eine Lebensbegleitung. Sobald die Person gestorben ist, ist ihr Körper tote Materie. Und das bleibt für mich ein Rätsel des Lebens. Ge- rade heute habe ich ein Neugeborenes gesehen – und morgen sehe ich jemanden, der seinen letz- ten Atemzug macht. Das erlaubt einen tiefen Ein- blick in das Leben. Ich weiss nicht, was nach dem Tod kommt, bin aber sehr gespannt darauf. Ich stelle diesbezüglich keine Spekulationen an. Die Geschichten von Paradies, Hölle und Wiederge- burt überlasse ich anderen. Ich habe genug zu tun mit dem Leben hier. Wenn man diesem Ereignis sehr nahe ist, ist es aber schon sehr eindrücklich. Man wird sich bewusst, welchen Wert jeder ein- zelne unwiederbringliche Moment hat. Das ist etwas, an das ich mich nicht wirklich gewöhnen kann. Ist es schon vorgekommen, dass Leute sie gebeten haben, Sterbehilfe zu leisten? Ja, das gab es tatsächlich schon. Ich bin nicht Mitglied von Exit. Das heisst aber nicht, dass ich etwas dagegen hätte. In allen Fällen, die ich mit- verfolgt habe, lief alles gut ab, vor allem mit Exit. Mit dieser Organisation sterben die Leute zu Hause und nicht im Spital. Ich meinerseits begleite hin- gegen oft Angehörige, die mich nach dem Todes- fall noch einmal sehen möchten. Werden auch Freiwillige für die Begleitung von Patientinnen und Patienten im Spital ein­ gesetzt? Es gibt verschiedene Gruppen von Freiwilligen, die zu diesem Zweck ausgebildet wurden. Sie be- gleiten die Betroffenen, die sich an sie wenden, oder leisten Kranken Gesellschaft, die nicht allein im Zimmer sein möchten. Diese Freiwilligen kön- nen dabei sein, wenn ein Leben zu Ende geht. Wenn aber Pflege oder Gespräche benötigt wer- den, werden die damit verbundenen Aufgaben dem Pflegepersonal oder den Seelsorgenden über- tragen. Es gibt Menschen, die wirklich sehr allein sind, und wenn sie gestorben sind, finden wir keine Angehörigen. Der Sozialdienst organisiert in einem solchen Fall das Begräbnis, und dabei bin ich immer anwesend. Es ist eine Geste der menschlichen Würde, auf die ich nicht verzichten will. Wenn ich weiss, dass jemand keine Bibel­ lesung gewünscht hat, lese ich manchmal einfach ein Gedicht vor. Es ist mir wichtig, darauf hinzu- weisen, dass diese Momente am Lebensende und die Gespräche immer wieder aufzeigen, wie un- erschöpflich die Lebensquellen sind und wie die- ses Leben uns alle einzigartig macht. Das ist eine sehr bereichernde Erfahrung.

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