ENSEMBLE Nr. / N° 26 - März / Mars 2018

15 ENSEMBLE 2018/26 —– Dossier B E G E G N U N G Bevor der Himmel einstürzt In einem Erfahrungsbericht erzählt die Autorin von einer speziellen Begegnung: zwei Frauen die sich fremd sind, aber sich trotzdem verbunden fühlen. Von Danièle Eggenschwiler Sie stolperte über den Asphalt, ohne zu wissen wohin. Emilio hatte geschrien «dann hau doch ab und komme nicht wieder zurück!». Dieser Satz hallte in ihrem Kopf. Ihr wurde schwindlig. Atemlos blieb Nathalie stehen, ihre Beine zitter­ ten, der Magen war verkrampft, der Hals zuge­ schnürt. Sie hatten sich schon wieder gestritten. Nathalie drückte auf die Messingklinke und stemmte die Kirchentür auf. Sie war offen! Ruhiges Halbdunkel und der Geruch nach erloschenen Kerzen empfingen sie. Wie kühl es hier war. Wie still. Ausser ihren Schritten auf dem Steinboden war nichts zu hören. In der zweitvordersten Reihe setzte sich Nathalie vorsichtig auf die Holzbank und atmete durch. Sie sass da und atmete tief, die Augen auf das Holzkreuz gerichtet, das gross und ruhig von der Decke hing. Tränen schossen ihr in die Augen. Bebende Schultern Ich hatte in einer anderen Bankreihe gesessen und mich gerade erheben wollen, als laute Schritte ertönten. Ich hielt inne. Eine junge Frau rückte in mein Blickfeld. Sie schien ganz in ihre Welt ver­ sunken zu sein und bemerkte mich nicht. Die Holzbank knarrte leise, als sie sich setzte. Einige Augenblicke sass die Unbekannte still da. Plötzlich begannen ihre Schultern zu beben und sie schlug die Hände vor das Gesicht. Ich konnte sie be­ trachten, vorsichtig und ein bisschen verwundert. Keine halbe Stunde zu­ vor war ich selber so dagesessen. War es Zufall, dass wir fast im gleichen Augenblick aufstanden und langsam gegen den Ausgang schrit­ ten? Als eher zurückhaltende Person spreche ich fremde Personen selten an. Doch dieser Moment war ein spe­ zieller. «Entschuldigen Sie, ich habe die nächsten zwei Stunden nichts Besonderes zu tun und möchte gern einen Kaffee trinken gehen», sagte ich. «Haben Sie Lust mitzukommen?» Die junge Frau blickte mich an, zö­ gerte, und nickte: «Gut. Ich habe auch Zeit. Ich komme mit.» Das Wissen um den gemeinsamen Aufenthalt in der Kirche verband uns, wortlos. Nathalie erzählte mir, warum sie in der Kirche war. Sie schilderte ihre Zweifel, ihren Kummer, ihre Wut und ihren letzten Streit mit Emilio. Sie sagte: «Du bist älter und hast Erfahrung. Was soll ich jetzt tun?» Ich schüttelte den Kopf: «Zwar bin ich einiges älter als du, aber in meiner Rat­ schachtel sieht es mager aus. Ich bin alles andere als eine Beziehungsmeisterin. Aber ich kann dir die Adresse einer kirchlichen Partnerschaftsbe­ raterin geben. Ich schätze sie sehr.» Offene Kirchentüren «Ist es nicht seltsam, dass ich immer wieder in einer Kirche lande?» Nathalie beugte sich über ihr Glas. «Eigentlich gehe ich nicht absichtlich dort­ hin. Genau wie heute. Ich habe ja gar keine Be­ ziehung mehr zu Gott. Aber oft, wenn ich nicht mehr weiterweiss und das Leben wehtut, lande ich in einer Kirche. Dort kann ich einfach unge­ hemmt traurig sein. Was täte ich ohne offene Kirchentüren! Unvorstellbar!» Ich verstand Nathalie sehr gut: Auch in meinen glaubensfernsten Lebensphasen zog es mich im­ mer wieder in Kirchen hinein. Zurück zur Gegen­ wart. Ich denke an Nathalie. Emilio und sie haben sich, nach gemeinsamen Besuchen der Partner­ schaftsberatung, getrennt. Ich hörte schon lange nichts mehr von ihr. Aber solange es offene Kirchenhäuser gibt, muss ich mir keine allzu gros­ sen Sorgen um sie machen. ©Keystone /Peter Schickert «Ist es nicht seltsam, dass ich immer wieder in einer Kirche lande?» «N’est-il pas étrange que j’atterrisse toujours dans une église?»

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