ENSEMBLE Nr. / N° 26 - März / Mars 2018

18 Fokus —– ENSEMBLE 2018/26 Viele Menschen spüren im Unterbewusstsein, dass sie ihre Position als Besser-Wissende ver­ lieren, wenn ihnen kompetente Migranten begeg­ nen. Ich verstehe, dass diese Erkenntnis Angst machen kann. Doch die Gesellschaft kommt nicht weiter, wenn sie Migranten aus diesen Ängsten heraus auch künftig nur in niedrig qualifizierten Positionen halten will. Weshalb nicht? Migration ist in der Schweiz, nein weltweit, eine Realität, die wir nicht mehr wegdenken können. Diese Realität stellt neue Anforderungen an uns alle. Also müssen wir einen Schritt nach vorn gehen und schauen, was wir aus dieser Viel­ falt unserer Gesellschaft machen. Es braucht eine gemeinsame Solidarität, ein gemeinsames Hin­ schauen. Die Schweiz wird dadurch nur stärker. Was müsste sich also auf der Ebene von Institu- tionen ändern? Vielen Institutionen fehlt das Bewusstsein, dass ein Migrationshintergrund auch eine Ressource sein kann. Gerade in der Arbeit mit Migrantinnen kann ich mit meiner Lebensgeschichte womöglich die Situation des Gegenübers besser erfassen und verstehen als jemand, der die Erfahrungen von Flucht und Neuankommen nie gemacht hat. Wer migriert ist und immer noch funktioniert, besitzt zudem meist eine immense Resilienz. Es ist wich­ tig, dass Migrationserfahrung als Potenzial und nicht nur als Defizit angesehen wird! Wie konkret können Institutionen dieses Potenzial abholen? Institutionen könnten bei der Neubesetzung einer Stelle ihre bisherige Ausschreibungspraxis überdenken und ein konkretes Profil erstellen: Welche Erfahrungen sind wichtig, welches Wissen braucht es? Ist es wirklich nur der Universitätsab­ schluss und die Berufserfahrung in der Schweiz, die zählen? Oder sind ein Fluchthintergrund und die Tatsache, dass man sich hier mit viel Wille und Engagement eine neue Existenz aufgebaut hat, nicht ebenfalls wichtige Ressourcen? Was können die Unternehmen sonst noch tun? Ein vielfältiges Team, das die gesellschaftliche Realität widerspiegelt, ist ausschlaggebend. Es geht jedoch nicht nur darum, dass ein Unterneh­ men Migranten physisch anstellt. Die Frage ist, ob ich als Organisation den Migranten Fachkompe­ tenzen zutraue. Die Haltung ist entscheidender als die physische Anstellung. Was, wenn es mit der Sprache «hapert»? Gerade die Sprache ist für Migranten, die nicht hier geboren sind, ein grosses Hindernis. Sie wer­ den fast nie, beim besten Willen nicht, wie ein Muttersprachler sprechen und schreiben können. Deshalb brauchen Personen mit Migrationshinter­ grund im Arbeitsprozess punktuelle Unter­ stützung. Wenn ein Unternehmen hier Lösungen anbietet, zum Beispiel jemanden einsetzt, der wichtige Korrespondenz gegenliest, kann der Be­ trieb auf der anderen Seite viel gewinnen. Wenn die Sprache als Hürde hochgehalten wird, gibt es für Migrantinnen und Migranten nie eine Chance, ihre wahren Potenziale in ein Unternehmen ein­ zubringen! Sie arbeiten Teilzeit für die Reformierte Kirche Biel. Welche Haltung gegenüber Migranten erleben Sie in der Kirche? Ich denke, Kirchen haben schon heute eine tendenziell akzeptierendere Haltung als Verwal­ tungsbehörden. Die Kirchenbehörden scheinen mir in der Anstellung mehr Freiräume und auf­ grund des Menschenbilds ihres Glaubens eher humanitäre Kriterien zu haben. Was kann die Kirche tun, um Migrantinnen und Migranten weiter in ihrer Position zu stärken? Kirchen können der einseitigen Berichterstat­ tung der Medien entgegenwirken, indem sie auch Menschen in einer Minderheitsposition eine Platt­ form geben. Das beste Rezept ist, Begegnungen zu schaffen. Die Kirche kann in die Zukunft inves­ tieren, indem sie Neugierde und Interesse weckt für eine gesellschaftliche Realität, die schon lange besteht. ©Alena Lea Bucher Aysel Güllü Korkmaz ©Alena Lea Bucher

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc3MzQ=