ENSEMBLE Nr. / N° 28 - Mai 2018

12 Dossier —– ENSEMBLE 2018/28 Ira Kurthen ist Psychologin und promoviert an der Universität Zürich. Sie erklärt, was in unserem Gehirn passiert, bis wir etwas als «wahr» anerkennen. Interview von Daria Lehmann Frau Kurthen, wie wird «Wahrheit» in der Psycho- logie definiert? In der Psychologie wird «Wahrheit» in der Regel gar nicht definiert, da «Wahrheit» wissenschaftlich gesehen etwas Heikles ist. Unser Ziel ist es zwar, mithilfe von Experimenten Wissen über Tatsachen zu generieren – daraus etwas abzuleiten, was mit 100 Prozent Wahrscheinlichkeit stimmt, wäre aber vermessen. Wahrheit ist ja auch etwas, das nicht angezweifelt werden darf. So eine Einstellung wä­ re für die Wissenschaft aber hinderlich. «Wahrheit» per se gibt es also in der Wissenschaft nicht. Für uns als Menschen aber schon. Wie kom- men wir darauf, etwas als «wahr» wahrzunehmen? Aktuelle Theorien über das Gehirn gehen von einem ständigen Wechselspiel zwischen zwei Ar­ ten von Informationen aus: Einerseits liefern die Sinnesorgane ständig Signale von der Aussenwelt. Andererseits haben wir bereits Vorwissen und Ah­ nungen, welche Signale uns die Sinnesorgane in allernächster Zukunft liefern werden. Das alles ist so alltäglich, dass es uns gar nicht auffällt. Wir merken davon nur etwas, wenn Sinnesinformation und Vorhersage nicht zusammenpassen. Diese Prozesse funktionieren bei abstrakten Informatio­ nen sehr ähnlich. Das heisst also, wir entscheiden oft gar nicht be- wusst, ob wir etwas glauben oder nicht. Warum? Das geschieht aus Effizienzgründen: Bewusste Entscheidungen kosten Zeit und Energie. Deswe­ gen wird nur ein Bruchteil aller Entscheidungen bewusst getroffen. Warum entscheiden verschiedene Personen dann unterschiedlich? Weil unser Vorwissen die Entscheidungen lei­ tet. Und dieses Vorwissen ist etwas, was sich zwi­ schen Individuen stark unterscheidet, daher unter­ scheiden sich auch ihre Entscheidungen. Können unsere Entscheidungen auch «von aussen» beeinflusst werden? Ja. Einer der eindrücklicheren Faktoren ist da­ bei der «Ankereffekt»: Unsere Entscheidungen werden von den vorhergehenden Informationen beeinflusst. Es gab ein Experiment, in dem Richter die Länge einer Haftstrafe festlegen mussten, nachdem die Staatsanwältin vor den Augen der Richter mithilfe eines Würfels die Länge der Haft­ strafe in Monaten vorgeschlagen hatte. Die Richter wurden durch diese Zahl beeinflusst, obwohl sie gesehen hatten, dass sie durch Zufall entstanden war. Wir sind also generell leicht zu manipulieren? Wenn uns etwas bereits plausibel erscheint oder wenn wir gerade keine Zeit haben, uns ge­ nauer mit etwas zu beschäftigen, ja. Auch das Argument der Masse zählt: In einem Experiment wurden Versuchspersonen gefragt, welche von zwei unterschiedlichen Linien länger ist. Manche Versuchspersonen mussten diese Aufgabe in einer Gruppe mit verdeckten Gruppenmitgliedern des Studienteams lösen. Diese «falschen Versuchsper­ sonen» wählten nun mit voller Überzeugung die falsche Linie. Das führte nicht nur dazu, dass die eigentliche Versuchsperson mit einer höheren Wahrscheinlichkeit ebenfalls die falsche Linie wählte, sondern auch, dass sie wirklich an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln begann. DIE ILLUSION VON BEWUSSTEN ENTSCHEIDUNGEN PSYCHOLOGIE DÉCIDER EN TOUTE CONNAISSANCE DE CAUSE? PURE ILLUSION! PSYCHOLOGIE

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