ENSEMBLE Nr. / N° 28 - Mai 2018

16 Dossier —– ENSEMBLE 2018/28 Bilgin Ayata ist Politikwissenschaftlerin und Professorin an der Universität Basel. Sie erklärt, welche Rolle Wahrheit in der Politik spielt. Interview von Barbara Heer Frau Bilgin Ayata, Sie forschen zu Themen wie Migration, Erinnerung, Konflikte und soziale Be- wegungen. Welche Rolle spielt «Wahrheit» in Ihrer Forschung? In der Akademie sind wir vorsichtig, von Wahr­ heit zu sprechen. Jedes Forschungsergebnis ist erst einmal ein Ausdruck des derzeitigen Wissens­ stands. Im Gegensatz zu anderen Institutionen wie beispielsweise den Religionen haben wir in der Wissenschaft keine Absolutheitsansprüche. Wissenschaft hat vielmehr die Rolle, Annahmen, die für Wahrheiten gehalten werden, zu hinter­ fragen. In den Sozialwissenschaften werden heu­ te Wahrheiten als Konstruktionen begriffen. Die Rechte in den USA sagt nun: «Die Postmoderne hat gesagt, dass es keine Wahrheit gibt, deshalb ist alles Fake News.» Diesen Gedankensprung hat die Postmoderne nicht gemeint. Wenn wir sagen, dass es keine absolute Wahrheit gibt, rücken wir die Kritikfähigkeit der Menschen in den Fokus. Wir haben aktuell in den USA, der Türkei und vie­ len anderen Ländern keine Krise der Wahrheit, sondern eher eine Krise der Kritikfähigkeit. In der Überhäufung von Informationsquellen ist es zen­ tral, dass Bürger kritisch und verantwortungsvoll mit dem Gehalt von Informationen umgehen. Denn es steht die Fähigkeit der Demokratien, sich kritisieren zu lassen, auf dem Spiel. Und das ist ein wichtiger Aspekt einer gut funktionierenden Demokratie. In einer solchen Phase werden die Sozialwissenschaften ungemein wichtig, da genau sie den Beitrag zur Kritikfähigkeit leisten. Deshalb ist es auch symptomatisch für die Krise der Kritik­ fähigkeit, dass die Sozialwissenschaften von rech­ ten Parteien angegriffen werden und Kürzungen drohen. Sie erforschen unter anderem, wie gewisse Wahr- heiten verschwiegen, verleugnet, ausgeblendet werden. Was ist damit gemeint? Nehmen wir das Beispiel des armenischen Genozids in der Türkei. Seit vielen Jahren sind gan­ ze Bibliotheken gefüllt worden mit Forschungen, die den Genozid aufarbeiteten. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden vom türkischen Staat aber geleugnet, und vielmehr schuf er Gegen­ wahrheiten, indem er ganze Institute gründete, die eine Gegenthese verbreiteten. Diese Gegen­ these leugnet nicht, dass es Tote gegeben hat, aber sie besagt, dass es ein Aufstand der Armenier war, bei dem es auf beiden Seiten Verluste gab, und lehnt eine absichtsvolle Tötung ab. Der türkische Staat leugnet bis heute, dass eine systematische Vernichtung stattfand und der Staat die Verant­ wortung trug. Gibt es Leugnung nur in Staaten mit schwachen demokratischen Strukturen wie der Türkei? Nein. Im Gegensatz zur Türkei wird Deutsch­ land als ein Land gesehen, das seine Vergangen­ heit vorbildlich aufgearbeitet hat: und zwar die Verbrechen des NS-Regimes und den Holocaust. Allerdings tut sich Deutschland bis heute sehr schwer damit, die eigene Kolonialgeschichte auf­ zuarbeiten und den Herero-Nama-Genozid in Deutsch-Südwestafrika offiziell als Völkermord anzuerkennen. Leugnungspolitik und die Fabri­ zierung von Alternativnarrativen sind kein Einzel­ fall, sondern Teil von Staatspolitik. Ganz wichtig ist zu betonen, dass Leugnungsprozesse nicht als Resultat mangelnder Information oder fehlenden Wissens passieren. Staaten leugnen absichtsvoll, wenn unliebsame Wahrheiten das Selbstverständ­ nis der Nation in Frage stellen oder weil sie die Narrative, welche die kollektive Identität einer Gesellschaft konstituieren, hinterfragen oder gar zerstören. « WAHRHEITEN SIND IMMER UMKÄMPFT» POLITIK LES VÉRITÉS SONT TOUJOURS EN COMPÉTITION POLITIQUE

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