ENSEMBLE Nr. / N° 30 - Juli / Juillet 2018

10 Dossier —– ENSEMBLE 2018/30 Der Arzt Steffen Eychmüller leitet das inter- professionelle Universitäre Palliativzentrum am Inselspital Bern. Aufgenommen werden Personen mit komplexen, schnell verlaufen- den Krankheiten. Ein Gespräch über die letzte Lebensphase und darüber, wie es wäre, wenn Sterben und Tod als normale Vorgänge zum Leben gehören würden. Interview von Gerlind Martin Herr Eychmüller, was ist für den Umgang mit Personen in der letzten Lebensphase wichtig? Unser Hauptthema ist die Bescheidenheit: Dass wir uns nicht anmassen, die wichtigen Le­ bensereignisse oder Bögen in der Geschichte des Menschen, der jetzt nicht mehr lange leben wird, zu verstehen. Wir können Platz, Ruhe und Zeit schaffen für wichtige Begegnungen. Es ist uns ein grosses Anliegen, Hektik und Stress so gut wie möglich zu reduzieren. Oft stellen Personen, die wissen, dass sie eine fortschreitende Erkrankung haben, frühzeitig die Weichen: Sie wollen den Weg nach ihrer Agenda bestimmen und die ver­ bleibende Lebenszeit nicht von medizinischen Terminen bestimmen lassen. Es ist viel gewonnen, wenn sich die erkrankte Person sagen kann: Jetzt, da der Körper nicht mehr so mag, brauche ich aus dem Arsenal der Energien jene, die mir etwas bringen, die ich gezielt als Ressourcen nutzen kann. Von welchen Energielieferanten profitieren Men- schen am Lebensende? Gelingt es uns, Platz zu schaffen, dann zeigt sich, wie viele andere Themen für diese Person mit Blick auf ihr Lebensende relevant sind: bei­ spielsweise Begegnungen mit Haustieren, ein früheres Hobby, Musik, die Natur, oder das Ziel, so viel Selbstständigkeit und Mobilität zu erreichen, um an einen geliebten Ort gehen zu können, etwa in die Natur oder nach Hause. Was ist am Lebensende wichtig? Wir halten einen Rückblick auf die Lebensge­ schichten der erkrankten Personen für wichtig. Diese Geschichten sollten aufs Lebensende hin nicht unbesprochen bleiben, nicht begraben oder verbrannt werden. Ein Weg ist beispielsweise das Vorgehen der sogenannten würdezentrierten The­ rapie. Hierbei wird das Lebensskript, die Lebens­ symphonie im Rückblick diskutiert, auf Tonband aufgenommen, der Familie abgegeben oder für sie abgeschrieben. Auch Familiengespräche können aufgezeichnet werden. Wie in einem Video werden so die Lebenslektionen, die gelernt worden sind, zusammen ausgetauscht. Viele Menschen erleben diese letzte Lebensphase ja sehr bewusst, meist stirbt man nicht von heute auf morgen. Das ist für mich ein Zeichen der Reife einer Gesellschaft: wenn sie sich interessiert für die Früchte, die Men­ schen am Lebensende gesammelt haben. Die gemeindebasierte Palliative Care begründen Sie mit Ihrer Überzeugung, es brauche nicht nur ein ganzes Dorf für die Erziehung eines Kindes, sondern auch für die Lebensendphase eines Men- schen ...  ...  entstanden ist die gemeindebasierte Pallia­ tive Care durch die Kooperation mit einem Projekt im indischen Bundesstaat Kerala. Die Grundidee dort war: Beste Betreuung am Lebensende ist kei­ ne fachspezifische Aufgabe der Medizin oder der Gesundheitsversorgung, sondern eine gesell­ schaftliche Aufgabe. Die Menschen in Kerala ver­ fügen heute über ein Grundwissen darüber, was am Lebensende wichtig ist, wie der normale Ster«PLATZ SCHAFFEN» PALLIATIVZENTRUM INSELSPITAL «FAIRE DE LA PLACE» CENTRE POUR LES SOINS PALLIATIFS DE L’HÔPITAL DE L’ÎLE «Die christliche Lehre ist topaktuell in Fragen von Gemeinschaft und Zusammenleben.»

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