ENSEMBLE Nr. / N° 32 - Oktober / Octobre 2018

16 Dossier —– ENSEMBLE 2018/32 Nicht nur gemeinsame Interessen verbinden, sondern auch gemeinsame Lebenswelten. So finden in der Hörbehindertengemeinde der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solo- thurn Menschen zusammen, die auf eine ganz spezielle Sprache im Gottesdienst angewiesen sind. Ein Erfahrungsbericht der Pfarrerin. Von Annemarie Hänni* Da gehörlose Menschen ausgesprochene Augen­ menschen sind, ist eine Power-Point-Präsentation zum Gottesdienst unerlässlich. Im Prinzip wird alles an der Leinwand angekündigt oder mit Bil­ dern und Fotos veranschaulicht. Im Gottesdienst haben zudem Gebärdenlieder ihren festen Platz. Dabei übernehmen die «tan­ zenden Hände» die Funktion der Singstimme und die Gemeinde gebärdet mit. Seit einiger Zeit neh­ me ich vermehrt Liedtexte aus dem reformierten Gesangbuch auf. Es bietet wunderbare Texte, wel­ che sich mit Gebärden zu wahrer Poesie wandeln! Natürlich muss man die Texte manchmal etwas umschreiben und adaptieren. Dadurch ist mir bewusst geworden, wie oft Gott im Zusammen­ hang mit «hören» und «sprechen» genannt wird: Gott hört, spricht, redet, erhört, horcht. Für Men­ schen, die organisch nicht hören, wirkt dies aus­ schliessend. Grenzen der Sprache Das Beherrschen der Lautsprache kann zur Bar­ riere werden. In der Schule ging es oft um die Erweiterung des Wortschatzes. Man sollte Synonyme gebrauchen lernen. Diese Übungen sind für mich nun eher ein Hindernis als ein Segen. Für die meisten Synonyme gibt es gar kei­ ne Gebärde. Sieht man zum Beispiel im «Gebärden- Sprachlexikon» des Schweizerischen Gehörlosen­ bundes (SGB) die einzelnen Begriffe «seufzen», «ächzen» oder «stöhnen» nach, kann man sie nur als «klagen» wiedergeben. Dass in Themenberei­ chen des Sprechens und Hörens kaum Gebärden existieren, ist zwar logisch, aber eine entspre­ chende, synonyme Gebärde zu finden, kostet Zeit. Da braucht es viel Fantasie, gerade in Bezug auf theologische Inhalte, damit der Sinn nicht ver­ loren geht. Auf der anderen Seite gibt es im Lexikon des SGB allein für «fahren» mindestens sechs verschie­ den Gebärden. Denn es spielt eine Rolle, ob man mit dem Motorrad, im Bus, im Zug, im Auto oder mit dem Rad unterwegs ist. Konzentration aufs Wesentliche Diesen Erfahrungen bezüglich Gottesdiensten und Gebärdensprache haben mich eines gelehrt: Re­ duktion! In einfachen, kurzen Sätzen die Dinge auf den Punkt bringen. Möglichst wenige Neben­ sätze verwenden, mit wenig verschiedenen Ob­ jekten. In der Gebärdensprache steht das Verb am Schluss. Zeitformen gibt es keine. Sie müssen aus dem Zusammenhang oder mithilfe der wenigen Zeitangaben wie gestern, heute oder morgen er­ schlossen werden. Ein Event Es ist eine unglaubliche Leistung, die das Gehirn der gehörlosen Menschen machen muss. Man darf nicht vergessen: Auch für sie ist die Gebärdenspra­ che eine Fremdsprache. In unserer Gemeinde gibt es Menschen, die kaum Gebärdensprache verste­ hen. Sie lesen hauptsächlich von den Lippen ab. Wobei man durch Lippen-Lesen nur etwa 30 Pro­ zent des Satzinhalts versteht. Dann gibt es Leute, die sich ausschliesslich in Gebärdensprache aus­ drücken. Wieder andere hören mit Hörhilfen recht gut. Für sie ist die Lautsprache in Ergänzung zur Gebärde wichtig. Der Gottesdienst ist ein Event, eine Möglichkeit zum Zusammenkommen und Austauschen und Unter-sich-Sein. Es geht zwanglos zu und her und man hat es oft lustig miteinander. Ich fühle mich wohl und aufgenommen, werde gefordert und lerne unglaublich viel über die Kultur von gehör­ losen Menschen. * Pfarrerin Hörbehindertengemeinde H Ö R B E H I N D E R T E N G E M E I N D E Der etwas andere Gottesdienst Eine komplett andere Sprache. Gottesdienst für Menschen mit einer Hör- behinderung. Une toute autre langue. Le culte pour les personnes malentendantes. ©zVg

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