ENSEMBLE Nr. / N° 34 - Dezember / Décembre 2018
20 Fokus —– ENSEMBLE 2018/34 einen Deutschkurs und nimmt dort auch am Mit tagstisch teil, wo sie soziale Kontakte knüpfen kann. Arbeiten würde sie sehr gerne – darf sie aber nicht. Sie könnte sich gut vorstellen, die Hotel fachschule zu absolvieren. Sie mag aber auch Kin der und könnte sich eine Arbeit mit Kindern vor stellen. Ihre grösste Angst ist zurzeit, dass sie nach Prêles im Berner Jura abgeschoben wird. Dort soll in einem ehemaligen Jugendheim ein Zentrum für abgewiesene Asylsuchende entstehen. Ein so genanntes Rückkehrzentrum. «Das wäre wie in einem Gefängnis», sagt Tenzin nachdenklich. Es sollen dort einst bis zu 450 Personen untergebracht werden. Ausweglose Situation Klar wird: Die Ungewissheit endet nicht mit der Flucht – und sie beginnt auch nicht damit. In Tibet sind die Menschen dem Druck der chinesischen Regierung ausgesetzt. Ein Bild des Dalai Lama an der Wand genügt, um ins Gefängnis gesteckt zu werden. «Es gibt keine Gerechtigkeit in Tibet», erzählt Tenzin. Die Leute leben in ständiger Angst vor den Repressalien der chinesischen Regierung. Menschen werden aus politischen Gründen hinter Gitter gesteckt oder gar getötet. Damit Tenzin ein mal ein besseres Leben hat, wurde sie von ihrer Mutter auf die Reise geschickt. Dafür zahlte sie einem chinesischen Schlepper ihre gesamten Ersparnisse. Zuerst ging es nach Nepal, wo Tenzin einen gefälschten Pass erhielt. Denn für Tibeterin nen und Tibeter ist es fast unmöglich, mit echten Papieren zu reisen. Sie gelten zwar als chinesische Staatsangehörige, haben in der Regel aber keinen chinesischen Pass. Und die wenigen, die chinesi sche Papiere besitzen, erhalten kein Visum. Von Nepal aus gelangte Tenzin über diverse Länder in die Schweiz. Und in der Schweiz wurde ihr wiede rum der gefälschte Pass zum Verhängnis. Die Schweizer Behörden lehnten ihr Asylgesuch ab, weil sie nicht beweisen konnte, dass sie Tibeterin ist. Wie auch, ohne offizielle Papiere? Nicht abhängig sein Dabei würde es ihr in der Schweiz sehr gut ge fallen. Das Klima sei sehr ähnlich wie in ihrer Heimat: die Kälte im Winter, die Jahreszeiten, die Berge. Und doch gibt es Unterschiede. «Es ist alles sehr sauber hier und gut organisiert», schmunzelt Tenzin. Seit kurzem hat sie sogar einen Schweizer Freund. Ihn heiraten, um in der Schweiz bleiben zu können, will sie aber nicht. Denn: «Ich möchte von niemandem abhängig sein!» Tenzin aus Tibet ist vor dem Druck der chinesischen Behörden geflüchtet. Damit kam sie von der einen Unge- wissheit in die nächste. Von Adrian Hauser Die 25-jährige Tenzin aus Tibet würde gern end lich mal zur Ruhe kommen. Seit ihr Asylgesuch zwei Mal abgelehnt wurde, lebt sie von der Not hilfe. Das sind 240 Franken pro Monat. Zusätzlich erhält sie 56 Franken pro Woche vom Schweizeri schen Roten Kreuz. Da dies kaum zum Leben reicht, wohnt sie in einer Notunterkunft des Schweizerischen Roten Kreuzes in der Umgebung von Bern. Dort teilt sie ein Zimmer mit zwei an deren Frauen aus Tibet. 2017 erhielt sie ihren zwei ten negativen Bescheid und befindet sich damit quasi in der Warteschlaufe. Erst nach fünf bis sechs Jahren nach der zweiten Absage ist es mög lich, ein nochmaliges Gesuch zu stellen, ein so genanntes Härtefallgesuch. Dies kann bewilligt werden, wenn die Gesuchstellerin eine Arbeit in Aussicht hat, genügend Sprachkenntnisse besitzt und sozial gut integriert ist. Daneben gibt es noch weitere Kriterien wie beispielsweise ein guter Leu mund, beziehungsweise keine Einträge im Straf register. Angst vor Prêles Um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern, besucht Tenzin in einer Berner Kirchgemeinde regelmässig P O R T R Ä T Der Weg in die Ungewissheit Symbolbild aus Tibet: Die Porträ- tierte wollte aus Sicherheitsgründen anonym bleiben. Image symbolique du Tibet: la femme représentée voulait rester anonyme pour des raisons de sécurité. ©Reuters /Navesh Chitrakar
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