ENSEMBLE Nr. / N° 34 - Dezember / Décembre 2018

5 ENSEMBLE 2018/34 —– Dossier tiv, der Menschen den Boden entzieht und den psychischen Druck steigert. Je tiefer die Einkommen sind, des­ to höher ist das Risiko, schwer zu erkranken, vorzeitig zu sterben, einen Unfall zu erleiden oder Gewalt zu erfahren. Armut macht krank – und Krankheit macht arm. Betroffene nehmen ihr Schicksal oft resigniert hin. Sie betrachten Defizite als persön­ liches Versagen und werfen sich selbst vor, was an misslichen Verhältnis­ sen liegt. «Wenn ich in der Schule besser aufge­ passt hätte, würde ich heute mehr verdienen», sagte mir eine alleinerziehende Mutter. Sie findet es auch richtig, dass der Mietpreis steigt, den sie kaum bezahlen kann. Das Eingeständ­ nis von Unrecht ist ein Appell, etwas zu ändern. Aber wer sich ohnmächtig fühlt, empfindet eine Heraus­ forderung eher als Bedrohung und streckt sich nach der Decke. Kon­ formität gewährt imaginäre Sicherheit. Und Ungewissheit disponiert dazu, Halt in Vereinfachungen zu suchen. Wie die populisti­ sche Ordnungspolitik, die «Randständige» gerne diffamiert und ins Niemandsland spediert. Drinnen und draussen Der Soziologe Georg Simmel (1908) verglich Fremde mit Armen. Beide sind in der Gesellschaft drinnen und draussen. Sie müssen besonders mobil und flexibel sein. Ihre unfreiwillige Ungebundenheit bedeutet Zwang. Partiell ermöglicht sie auch eine Beweglichkeit, die Neid weckt und soziale Distanz erhöht. Daran lässt sich anknüpfen. Integration bedeutet aktive Teilhabe am sozialen Geschehen. Dazu gehören autonome Praxen. Indem wir auf­ einander zugehen, erkennen wir auch, was uns trennt. Integration und Ausschluss sind eng mit­ einander verknüpft, vor allem in pluralistischen Gesellschaften. Wenn wir Fremdes und Trennendes besser ver­ stehen wollen, müssen wir uns auch mit dem aus­ einandersetzen, was uns bei uns selbst fremd ist. Dabei hilft, wenn wir uns eingestehen, was wir bei uns und andern nicht verstehen. Das bringt uns näher. Wie das Vergegenwärtigen eigener Prägungen. Sonst sehen wir bei Menschen am Rande immer wieder, was wir in sie hineinproji­ zieren. Uns imponiert oder stört dann, was wir uns selber wünschen und nicht gestatten. Interessant ist, wenn wir Menschen am Rande offen als eigen­ ständige Wesen wahrnehmen, die uns und unsere Gesellschaft spiegeln. Treppauf und treppab Gerechtigkeit verlangt strukturellen Ausgleich und Selbstentfaltung. Die materielle Existenz­ sicherung ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Sie fordert uns auch persönlich heraus. Wir können Menschen den Rücken stärken, indem wir selbst widerständig leben und uns immer wieder be­ Geld ist zwar genug vorhanden, es hapert aber mit der Verteilung. Il y a assez d’argent, mais il y a un manque de répartition. ©Ex-press /Urs Keller

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