ENSEMBLE Nr. / N° 36 - März / Mars 2019

13 ENSEMBLE 2019/36 —– Dossier Welche Unterstützung kann Karl Barth heute für die protestantische Kirche bieten? Man kann heute in Panik geraten, wenn man die Auflösungserscheinungen der Kirche sieht. Das kann so weit gehen, dass man sich nur noch dar­ auf konzentriert. Karl Barth hilft uns, indem er uns sagt, dass die Kirche nicht von uns abhängt und dass eine Kirche, die um ihr Überleben kämpft, bereits tot ist. In seinen Augen hat die Kirche nur dann einen Sinn, wenn sie sich in den Dienst des Evangeliums stellt. Er kann keine magische Lö­ sung aus dem Ärmel zaubern, aber er warnt uns vor der Besessenheit und der Lähmung angesichts der heutigen Krise und der Reduktion der Kirche auf eine Institution, deren Überleben angeblich einzig von ihrer Neuausrichtung abhängt. Der Basler Theologe war ein grosser Bewunderer der Öffnung, welche die katholische Kirche im Gefol­ ge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) in die Wege geleitet hatte. Sicher würde Karl Barth heute die Reformierten dazu auffordern, sich ra­ dikaler in Frage zu stellen und den eigentlichen Schatz der Kirche neu zu entdecken: das Evan­ gelium. eine theologische und nicht nur auf eine histo­ risch-kritische Art und Weise), aber auch mit seiner Vision von Gott und mit seiner dialek­ tischen Methode. Seine Beziehung zum Ökumenis­ mus, zur Orthodoxie oder zur Trinitätstheologie, die seit den 80er-Jahren ein Revival erlebte, stiess bei den Theologen ebenfalls auf Interesse. Es exis­ tieren zurzeit mehrere grosse Studienzentren, die sich Karl Barth widmen, hervorgehoben seien das theologische Seminar von Princeton in den Ver­ einigten Staaten sowie die Universitäten Aberdeen und St-Andrews in Schottland. Wie sah er die Beziehung zwischen Mann und Frau? Seine Vision war die Unterordnung der Frau unter den Mann. In meinen Augen ist diese wörtliche Auslegung der Bibel ein Makel in seinem Denken. Er starb im Alter von 68 Jahren, etwa zu dem Zeitpunkt, als die feministische Bewegung aufkam. Privat lebte er in einer komplizierten und aufreibenden Dreiecksbeziehung. Er war ver­ heiratet mit Nelly, verliebte sich dann aber in Charlotte von Kirschbaum, die seine Assistentin wurde und mit dem Ehepaar bis in die 1960er-Jahre zusammenlebte. Was gewisse Fragen wie Heirat, Staat oder Nation betrifft, vertrat Karl Barth nicht wirklich konservative Ansichten. Welche politischen und sozialen Positionen würde er heute einnehmen? Politisch war Karl Barth immer ein dezidierter Linker. Während seiner Pfarrjahre in Safenwil (zwischen 1911 und 1921) setzte er sich unmiss­ verständlich für die Arbeiter dieses kleinen aar­ gauischen Industrieorts ein. Er trat der sozial­ demokratischen Partei bei und engagierte sich im sozialen Christentum, von dem er sich aller­ dings später, als er sich der Dogmatik zuwandte, wieder distanzierte. Er vertrat zudem die Über­ zeugung, die Kirche müsse zuerst grundsätzliche Fragen mit einer gewissen Klarheit beantworten, bevor sie sich in sozialen Aktionen (die er im Übrigen unterstützte) verzettle. In den 30er-Jah­ ren bezog er Stellung gegen die Nazis, vorab allerdings in Bezug auf Fragen der Kirchenpoli­ tik. Er griff Hitler nicht frontal an, was ihm spä­ ter zum Vorwurf gemacht wurde. Ich denke, er würde sich heute gegen die Errichtung von Mau­ ern wenden, egal wo. Er wäre erstaunt, protes­ tantische amerikanische Pfarrer zu sehen, die behaupten, im Paradies gebe es Mauern. Er wür­ de bestimmt auch sagen, Europa dürfe keine Festung mit einer Mauer werden und die Men­ schen im Mittelmeer ertrinken lassen. Ihm wäre sicher auch die Lohnungleichheit zwischen den obersten Chefs und dem Rest der Bevölkerung ein Dorn im Auge. Christophe Chalamet ©Nathalie Ogi

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