ENSEMBLE Nr. / N° 40 - Juli / Juillet 2019

10 Dossier —– ENSEMBLE 2019/40 Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello ist Ent- wicklungspsychologin, Psychotherapeutin und Präsidentin des Stiftungsrats der Senioren- universität Bern. Sie erklärt, was wichtig ist, um sich auch im Alter wohl zu fühlen. Von Adrian Hauser Welchen Herausforderungen müssen wir uns stel- len, wenn wir älter werden? Es sind körperliche Veränderungen und Ver­ luste der Kraft, Geschwindigkeit sowie der Wahr­ nehmungsfähigkeit. Hinzu kommen kognitive Verluste, Verluste im sozialen Umfeld, aber auch die Konfrontation mit negativen gesellschaft­ lichen Altersbildern. Die eigentliche Herausforde­ rung ist jedoch das hohe Alter. Ab dem Alter von 80 Jahren nehmen demenzielle Erkrankungen, Multimorbidität und Pflegebedürftigkeit stark zu. Allerdings gibt es Unterschiede im Umgang mit diesen Herausforderungen, die je nach Generatio­ nenzugehörigkeit, Bildungsstand, Geschlecht, Persönlichkeit oder kulturellem Hintergrund va­ riieren. Wie geht man am besten mit diesen Herausforde- rungen um? Je nach Lebenslage und Erfahrungen verwen­ den ältere Menschen unterschiedliche Strategien. Den meisten gelingt es, trotz zunehmender Ver­ luste sich wohlzufühlen. In der Altersforschung sprechen wir vom «Paradox des Wohlbefindens im Alter». Hier spielen Mechanismen der Selbstregu­ lation eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ein we­ sentlicher Punkt ist auch, dass die mentalen Res­ sourcen mit dem Alter keineswegs dysfunktional werden, im Gegenteil: Sie werden immer gezielter und effizienter eingesetzt. Die Definition persön­ licher Massstäbe erfolgt vermehrt ungeachtet der äusseren Umstände oder gesellschaftlicher Nor­ men. Natürlich muss man dabei seine Ansprüche und Ziele den individuellen Möglichkeiten anpas­ sen oder Prioritäten anders setzen. Zentrale Fakto­ ren für die Erhaltung des psychischen Wohlbefin­ dens und der Autonomie sind soziale Beziehungen, sinnstiftende Aufgaben und Ziele, Weiterbildung, vor allem aber die Selbstverantwortung. Menschen mit hoher Selbstverantwortlichkeit sind autonomer und gesünder als Menschen, die mit der Überzeu­ gung leben, dass ihr Leben von anderen oder vom Schicksal bestimmt wird. Letztlich gehört auch da­ zu, dass man die eigene Biografie so akzeptiert, wie sie ist, und dass man vielleicht seine eigene Spiri­ tualität als Ressource neu entdeckt. Was kann man beim Älterwerden falsch machen? Wenn man das Gegenteil von dem tut, was ich gerade aufgezählt habe, also sich nicht weiter­ bildet, keine Interessen mehr verfolgt, keine Ziele hat, keine sozialen Kontakte pflegt, in der Vergan­ genheit hängen bleibt oder andere Umstände für sein Schicksal verantwortlich macht. Welche Unterschiede beim Älterwerden gibt es zwischen Männern und Frauen? Frauen leben zwar länger und gesundheits­ bewusster, haben aber mehr gesundheitliche Pro­ bleme als Männer. Sie verlieren früher ihre funk­ tionelle Autonomie, sind vermehrt auf fremde Hilfe angewiesen, haben aber die besseren sozia­ len Netzwerke. Männer tun sich eher schwer da­ mit, sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen, und sich diese zu holen. Die Suizidrate von Män­ nern nimmt im Alter zu, was bei den Frauen nicht zutrifft. «IM EINKLANG SEIN MIT SEINER BIOGRAFIE » INTERVIEW MIT PASQUALINA PERRIG-CHIELLO «ÊTRE ACCORDÉ À SA BIOGRAPHIE » INTERVIEW DE PASQUALINA PERRIG-CHIELLO

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