ENSEMBLE Nr. / N° 40 - Juli / Juillet 2019

16 Dossier —– ENSEMBLE 2019/40 Maria ist 66 Jahre alt, seit 35 Jahren Witwe und hat zwei erwachsene Kinder. Sie erzählt (anonym) von ihrer schwierigen Lebens- situation. Von Heidi Minder Jost* Ich habe 30 Jahre lang gearbeitet, bin seit drei Jahren pensioniert und ziemlich in ein Loch ge­ fallen. Wegen Steuerschulden lebe ich am Exis­ tenzminimum. Ich muss vieles überdenken: Zahn­ arzt, Brille, Kino- oder Coiffeurbesuch, alles Dinge, die nicht mehr möglich sind. Häufig fühle ich mich minderwertig, ein 2.-Klasse-Mensch. Ich zeige aber nicht, wie es mir wirklich geht. Auch habe ich gelernt zu lügen. Zum Beispiel, wenn ich eine Einladung ablehne, weil ich sie mir nicht leisten kann. Ich habe gelernt, nichts gegen aussen dringen zu lassen, das gehört in die Fami­ lie. Ja, man schämt sich. Ich gebe mir Mühe, dass ich nicht in Depres­ sionen falle. Ich habe aber in der kirchlichen Frei­ willigenarbeit relativ viel Halt gefunden. Aber es hilft mir nicht über alles hinweg, das finanzielle Problem bleibt. Nach dreissig Jahren arbeiten soll das jetzt alles sein? Meine Steuerschulden werden nie aufhören, ich kann nie etwas sparen. Auch wenn ich nur wenig Geld erhalte, muss ich alles versteuern. Die Zukunft ist schwarz. Ich versuche aber das Beste daraus zu machen. Letzthin habe ich festgestellt, dass ich mich zurückziehe und zu Hause sitze. Da kämpfe ich dagegen an. Aber «lä­ dele» geht nicht – da sieht man nur, was man sich nicht leisten kann. Ich hätte gerne mehr Informationen: Wo kann ich Hilfe holen? Habe ich Anrecht auf eine Kultur­ legi? Wer hilft mir meine Zähne zu sanieren? Bei der Schuldensanierung habe ich mich noch nicht gemeldet, weil ich eingestehen müsste dass es mir schlecht geht. Eine niederschwellige Anlaufstelle, wo ich nicht hundert Unterlagen mitnehmen muss, eine Broschüre, in der das Wichtigste auf einen Blick zusammengestellt ist, damit wäre mir geholfen. Auch in der Kirche finde ich nicht wirk­ lich etwas, das gezielt informiert. Ich bin anders geworden, gehemmter. Ich bin nicht mehr offen, melde mich nicht mehr bei ehe­ maligen Arbeitskollegen. Früher ging ich zum Coiffeur, heute lasse ich die Haare wachsen. Meine Kleider kaufe ich im Brockenhaus, gehe zur Unter­ haltung an die Fasnacht oder an Gratis-Konzerte. Ich lese Bücher und Zeitungen – die ich nach kostenlosen kulturellen Angeboten durchforste – in der Bibliothek. Ausflüge, Restaurantbesuche, ein Magazin kaufen: Was für viele selbstverständ­ lich ist, kann ich mir nicht leisten. Wenn man arm ist, lebt man auch ungesund. Gesundes Essen ist teuer, also gibt es vor allem Teigwaren und Kar­ toffeln. Armut ist in der Gesellschaft ein Tabuthema. Viele wollen nicht dran denken und sich schon gar nicht vorstellen, dass auch sie betroffen sein könnten. Ich wünsche mir von uns Armutsbetrof­ fenen, dass wir mehr Mut haben, uns zu öffnen und uns bemerkbar zu machen. Ich denke, die meisten haben grosse Schamgefühle. Es wäre wichtig, diese zu überwinden und zu sagen: «Es geht mir finanziell schlecht!» Man sollte die so­ zialen Ungleichheiten bewusster machen. Meine Arbeit in der Kirchgemeinde freut mich aber. Ich arbeite einmal in der Woche im Kultur­ treff und koche zwischendurch für Anlässe. Da kann ich etwas in Bewegung setzen, das gibt mir Befriedigung und stellt mich auf. Meine Kirchge­ meinde nimmt mich auch gratis mit in die Senio­ renferien. Hier werde ich zumindest ein Stück weit wieder zum 1.-Klasse-Menschen. * Fachbeauftragte Alter P O R T R Ä T Altersarmut existiert! © Keystone /Christof Schuerpf «Armut ist in der Gesellschaft ein Tabuthema.» «La pauvreté est un sujet tabou dans la société.»

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