ENSEMBLE Nr. / N° 42 - Oktober / Octobre 2019

14 Dossier —– ENSEMBLE 2019/42 Das Familienrecht hat sich im Laufe der Zeit immer wieder – wenn auch teilweise mit grosser Verzögerung – den gesell- schaftlichen Realitäten angepasst. Von Gabriella Weber* Bis 1874 stand das Eherecht in der Kompetenz der Kantone und war stark kirchlich geprägt. Nach­ dem die Gesetzgebung über das Zivilrecht dem Bund übertragen worden war, wurde das Ehe- und Familienrecht im Zivilgesetzbuch (ZGB) 1907 (in Kraft seit 1912) erstmals umfassend geregelt. Es blieb 60 Jahre unverändert in Kraft und orientier­ te sich am traditionellen Familienmodell. Die Auf­ gabenteilung der Ehegatten war im Gesetz gere­ gelt, der Ehemann wurde als Haupt der Familie definiert und der Ehefrau nur eine beschränkte Handlungskompetenz zugestanden. Ende 1957 setzte der Bundesrat eine Kommis­ sion ein, welche Vorschläge für eine etappenwei­ se Revision des Familienrechts erarbeitete. Die erste Änderung von 1973 betraf das Adoptions­ recht. Die Volladoption wurde eingeführt sowie die adoptierten den leiblichen Kindern gleichge­ stellt. Das neue Kindesrecht von 1978 beseitigte die Diskriminierung ausserehelicher Kinder und anerkannte das Kind als Rechtssubjekt mit eige­ nen Rechten. Partnerschaftliches Ehemodell Mit der Einführung eines partnerschaftlichen Ehe­ modells und der Gleichstellung von Frau und Mann wurde das Eherecht 1988 umfassend geän­ dert. Gemäss dem heute geltenden Eherecht tra­ gen die Ehegatten gemeinsam die Verantwortung für die Familie und den Familienunterhalt und können ihre Rollen und Aufgaben selber unter sich aufteilen. Das frühere Scheidungsrecht basierte auf dem Verschuldensprinzip und kam in der Praxis oft nicht mehr zur Anwendung. Mit dem neuen Scheidungsrecht von 2000 wurden die Scheidungsgründe vereinfacht und die Scheidung auf gemeinsames Begehren eingeführt. Auch die finanziellen Folgen der Scheidung werden heute verschuldensunabhängig festgelegt. Das Bundesgesetz über die eingetragene Part­ nerschaft gleichgeschlechtlicher Paare schuf ab 2007 eine eheähnliche Rechtsform für gleich­ geschlechtliche Paare. In den letzten Jahren wurde das Ehe- und Fa­ milienrecht weiter modernisiert. So steht seit 2014 die elterliche Sorge von Kindern den geschiede­ nen oder nicht verheirateten Eltern in der Regel gemeinsam zu. Das neue Kindesunterhaltsrecht trat am 1. Januar 2017 in Kraft und bezweckt die Gleichstellung von Kindern unverheirateter und verheirateter Eltern. Beim Kindesunterhalt wird neu neben dem Barunterhalt der Betreuungsun­ terhalt festgelegt, mit welchem die Lebenskosten des hauptbetreuenden Elternteils entgolten wer­ den sollen. Die letzte Revision des ZGB betrifft das Adop­ tionsrecht (seit 1. Januar 2018 in Kraft). Einerseits wurde das Mindestalter für Adoptiveltern von 35 auf 28 Jahre herabgesetzt, andererseits die Stief­ kind-Adoption unabhängig vom Zivilstand zuge­ lassen, also auch für Personen in eingetragener Partnerschaft oder faktischer Lebensgemeinschaft. Einfluss der Rechtsprechung Neben dem Gesetz hat auch die Rechtsprechung des Bundesgerichts einen grossen Einfluss auf das Familienrecht. 2018 erliess das Bundesgericht in einem Urteil neue Richtlinien bezüglich der Frage, ab wann einem alleinstehenden hauptbetreuen­ den Elternteil zugemutet werden kann, wieder einer Arbeitstätigkeit nachzugehen (und die Un­ terhaltsbeiträge zu reduzieren). Das Bundesge­ richt erachtet ab der obligatorischen Einschulung des jüngsten Kindes ein Arbeitspensum von 50  Prozent, ab dessen Eintritt in die Oberstufe ein Arbeitspensum von 80 Prozent und ab dem voll­ endeten 16. Altersjahr ein Arbeitspensum von 100  Prozent als zumutbar. * Beauftragte Ehe, Partnerschaft, Familie A N P A S S U N G A N G E S E L L S C H A F T L I C H E R E A L I T Ä T E N Familienrecht im Wandel Partnerschaftliche Ehemodelle und Gleichstellung von Frau und Mann sind heute gesetz- lich verankert. Les unions fon- dées sur le parte- nariat et l’égalité entre femmes et hommes sont désormais consa­ crées par la loi. ©Keystone /DPA /Frank May

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