ENSEMBLE Nr. / N° 43 - November / Novembre 2019

15 ENSEMBLE 2019/43 —– Dossier Auf die Entwicklungen (Individualisierung der Lebenswelten und Wertepluralismus) und Zumutungen in der Spätmoderne (Selbst- optimierung, Selbstinszenierung und Selbst- erlösung) reagieren die evangelischen Kirchen in der Schweiz mit Moral und Anpassung. Von Bruno Bader* Sie vertreten fast ausschliesslich Gemeinplätze und betätigen sich als religiöses Megafon für die sittlichen Forderungen der Zeit. Kirchliche Ver­ lautbarungen sind geprägt von einem rigorosen Moralismus: Sie belehren über das richtige Han­ deln in Sachen Energie, Ehe und Naturschutz, sie wittern allerorten Diskriminierung und dozieren Toleranz, von vornherein beargwöhnen sie Kapital und Besitz und bezichtigen der Ausbeutung. (Vgl. zum Beispiel das populistische Schlagwort «Fes­ tung Europa», welches unlängst an der Fassade der Heiliggeistkirche in Bern zu lesen war.) Zu diesen moralisierenden Dauerappellen passt, dass die evangelischen Kirchen in der Aussendarstel­ lung ausschliesslich auf ihre sozialen Leistungen hinweisen. Damit reduzieren sie sich selbst auf eine Anstalt für die gehobene Moral und die poli­ tische Korrektheit. Selbstverantwortung und Mündigkeit Die politischen Empfehlungen der reformierten Landeskirchen orientieren sich nahezu aus­ schliesslich an der evangelischen Einsicht in den Schutz des Schwachen. Für einen evangelischen Christenmenschen ist diese Erkenntnis von zent­ raler Bedeutung, keine Frage. Gleichermassen be­ deutsam freilich für die protestantische Existenz sind Selbstverantwortung und Mündigkeit. Diese Sichtweise allerdings findet sich in den öffent­ lichen Überlegungen kirchlicher Amtsträger kaum; deshalb eignet ihren Stellungnahmen in der Regel etwas Herablassendes und Paternalis­ tisches. (Diese Haltung wurde zum Beispiel deut­ lich in den Diskussionen rund um das neue Berner Sozialhilfegesetz.) Das Geschäft der reformierten Landeskirchen ist weder platter Moralismus noch medienwirk­ samer Populismus, sondern die Rede von Gott. Diese Erkenntnis wird die kirchlichen Amtsträger dazu veranlassen, sich weniger, aber gehaltvoller und kenntnisreicher zu äussern. Wenn sie dabei auf das Potenzial reformatorischer Theologie zu­ rückgreifen, werden sie zu überraschenden Aus­ sagen nicht nur über Gott, sondern auch über die Welt gelangen: Die sogenannten Exklusivpartikel der Refor­ matoren sind massgebend für die evangelische Sicht auf Gott und die Welt. In spätmodernen Zeiten zieht die alte Formulierung «die Gnade allein» die Neigung nach Selbsterlösung in Zweifel und fragt, wo die Würde des Menschen zu ver­ orten ist: im Subjekt oder andernorts? Die Kurz­ formel «Christus allein» sodann zieht die Aufmerk­ samkeit auf die Frage: Wem gehört die Welt? Zudem rückt sie Moralismus und die Praxis me­ dialer Hinrichtungen, die an Schärfe und Totalität den mittelalterlichen Pranger bei weitem über­ steigen, in ein anderes Licht und wirft die Frage auf, wer befugt ist, Dritte letztgültig zu beurteilen. Die Wendung «allein der Glaube» schliesslich entlastet vom Wahn, sich als Heilsbringer und Weltenretter aufspielen zu wollen. (Diese Einsicht halte ich für einen wichtigen Beitrag der refor­ mierten Kirchen in der Klimadebatte.) Die genannten Andeutungen verdanken sich reformatorischer Theologie und weisen hin auf Alternativen zu den spätmodernen Megatrends von Moralismus, Selbsterlösung und Selbstinsze­ nierung. So sieht der Weg in die Zukunft aus. Denn nur dann, wenn die evangelischen Kirchen in der Schweiz den Spuren, welche die Reformation ge­ legt hat, folgen, bleiben sie lebendig, erkennbar und bedeutsam. « K I R C H E . M A C H T . P O L I T I K . » Moral und Anpassung * Pfarrer, Saanen-Gstaad Bruno Bader ©zVg

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