ENSEMBLE Nr. / N° 44 - Dezember / Décembre 2019

13 ENSEMBLE 2019/44 —– Dossier spiritualität, die es ermög­ licht, in der Natur etwas anderes zu sehen als reine Materialität, Lager für Bo­ denschätze oder eine Ware. Wie kann unsere Vision von der Natur verändert werden? Die gesamte «horizonta­ le» Ökologie muss vertikali­ siert werden. Ziel ist es, zur Einheit zwischen Mensch, Erde und Gott zurückzufin­ den. Die Beziehungen zwi­ schen diesen drei Dimensio­ nen sind lebenswichtig und grundlegend. Die Heraus­ forderung besteht darin, Gleichgewicht(e) und Har­ monie(n) wiederzufinden. Welchen Beitrag kann das Christentum leisten? Es geht darum, die christliche Tradition neu zu verstehen. Sie verfügt über Mittel und Möglich­ keiten, die Welt und unsere Beziehung zur Natur wieder zu beseelen. Ich stamme aus einer ortho­ doxen Tradition, das ist eine Welt, die der west­ lichen Moderne mit ihren Dualismen weitgehend entkommen ist. In der Bibel wird der Mensch manchmal dargestellt als Wesen, das über die Welt herrscht. Ökologisch gesehen ist das Chris­ tentum nicht frei von «Sünden» – dem Ursprung der Trennung – wie etwa dem Anthropozentris­ mus oder der Gewalt, die den ersten Überlieferun­ gen angetan wurde. Hinzu kommt, dass eine aus­ gesprochen patriarchalische Tradition zum Verlust der weiblichen Dimension geführt hat, die für die Ökospiritualität sehr wichtig ist. Mit der Über­ arbeitung der Texte, den Beiträgen der Kirchen­ väter und Mystiker kamen auch Passagen zum Vorschein, in denen die Natur besungen wird als Spiegel Gottes, seiner Schönheit, seiner Grosszü­ gigkeit. Und die Orthodoxen verstehen die Natur als Ort, an dem sich Gott zeigt. Das alles ermög­ licht es heute, eine echte Ökospiritualität zu be­ gründen. Es ist die grüne Theologie, die sich in einem ökumenischen Umfeld gegen Ende der 60er-Jahre entwickelt hat. Das Christentum trägt somit eine Verantwortung? Selbstkritik ist notwendig. Ich bin soeben zurückgekehrt von einem Symposium in einem orthodoxen Kloster in Südfrankreich, bei dem Bischof Martin von der orthodoxen Kirche Frank­ reichs die Erde und sämtliche Wesen, die sie be­ wohnen, unter Tränen um Vergebung gebeten hat für die Gewalttaten, welche Christen verübt ha­ ben. Und ich habe plötzlich den Traum gehabt, dass Papst Franziskus und die Verantwortlichen aller Kirchen gemeinsam eine Erklärung abgeben, in der sie um Vergebung bitten. Welchen Beitrag leisten die reformierten Kirchen? Ende Februar 2020 wird in Strassburg ein gros­ ses Symposium zur grünen Theologie stattfinden. Organisiert wird es von der Fakultät für protestan­ tische Theologie. Zeitgenössische Persönlichkeiten wie der Ethiker Otto Schäfer unterstützen Haltun­ gen, welche die Einheit zwischen Mensch und Natur propagieren. Anfang Januar erscheint in Frankreich ein Buch, das vorschlägt, die Bibel unter einem neuen Licht zu lesen und dabei die ökologischen Herausforderungen in die Überle­ gungen miteinzubeziehen. Die Protestanten wa­ ren auch sehr aktiv in der Schweiz via oeku Kirche und Umwelt. Und ich stelle in der Westschweiz ein grosses Interesse für die Ökospiritualität fest. Wie sind Ihre Ateliers aufgebaut? In unseren Ateliers setzen wir uns erfolgreich mit Ängsten auseinander, die durch den gegen­ wärtigen Zustand des Klimas und der Ökologie ausgelöst werden. Es ist sehr wichtig, Emotionen wie Angst, Wut, Trauer oder Machtlosigkeit auf­ zugreifen und auf eine erneute tiefe Verbindung mit der Natur hinzuwirken. Im Anschluss an die­ se Arbeit ist es ebenfalls wichtig, diese Energien umzuwandeln und mit ihnen das eigene Engage­ ment «aufzuladen», um konkret handeln zu kön­ nen. Es ist durchaus möglich, in den Kirchgemein­ den einen Vortrag oder «Kohlenstoff-Gespräche» zu organisieren. Aus diesen Anlässen heraus kön­ nen Möglichkeiten und Motivationen entwickelt werden, unseren Einfluss auf das Klima zu redu­ zieren. ©Michael Stahl Die Schöpfung der Erde. La Création de la Terre.

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