ENSEMBLE Nr. / N° 44 - Dezember / Décembre 2019

18 Dossier —– ENSEMBLE 2019/44 Früher ging ich viel mit meinen gehörlosen Freundinnen und Freunden an Partys. An- fangs war uns der Musikstil egal, Hauptsache, viel Bass. So konnten wir die Musik fühlen und die Rhythmen vom Boden her im Brust- korb spüren – und tanzen. Von Cornelia Knuchel* Mit meinen Hörgeräten kann ich zwar Musik hö­ ren, kann unterscheiden, ob Töne hoch, tief, schnell oder langsam sind, aber den Inhalt des Gesangs nicht erkennen. Es ist ein Vorteil für mich, dass ich Musik «hören» und spüren kann. Bei einigen mei­ ner Freundinnen und Freunden ist es anders; sie spüren nur den Bass. Ich kann meine Hörgeräte über Bluetooth mit meinem iPhone verbinden und so Musik im Hörgerät abspielen. Wenn ich in einem Ohr warme Luft verspüre, weil ein hörender Mensch mir direkt ins Ohr spricht, gebe ich zu verstehen, dass ich nichts höre. Einige denken dann, sie müssten mit mir noch lauter sprechen. Mit dem Handy schreibe ich dann, dass ich gehör­ los bin und es keinen Sinn macht, in mein Ohr zu schreien. Ich muss die Lippen meines Gegenübers sehen, um ablesen zu können. Vor circa zwei Jahren wurde ich vom Vorstand des Gaskessels in Bern eingeladen. Damals entstand die Idee, auch bei Kulturangeboten im Gaskessel Inklusion zu machen. Die Jugendleiterin und der Vorstand des Gaskessels wollten wissen, worauf sie bei Veranstaltungen in Bezug auf gehörlose Men­ schen achten müssten, und was unabdingbar ist, wie z. B. viel Bass; Holzboden statt Beton; an der Bar Notizblöcke mit Stiften, um zu bestellen; Securi­ tas-Leute mit Kenntnissen der Gebärdensprache, damit wir im Notfall kommunizieren können. An einem Konzert trat als Vorgruppe sogar eine «bi­ linguale» Musikgruppe auf, die Band «Mixit». Ein hörender Rapper der Band singt in Lautsprache und gebärdet teilweise, neben ihm steht ein Gehörloser, der nur gebärdet. Hinter den beiden sitzt ein Hö­ render am Schlagzeug. Unsere Vorstellung von der Kultur-Inklusion wurde gut umgesetzt und die Ver­ antwortlichen erhielten das Label «Kultur inklusiv». Es traten auch Bligg, Marc Sway und Patent Ochsner gemeinsam mit Gebärdensprachdolmet­ scherinnen auf. Jedes Jahr im August wird in Bern auch eine Konzert-Filmaufnahme von Mani Matter mit einer Gebärdensprachdolmetscherin gezeigt. Der Anlass wird vom Verein Mux3 organisiert. Dabei werden die Lieder in Gebärdensprache übersetzt und die bearbeiteten Liedtexte an die Gehörlosen verteilt. Für die Vorbereitung brauchen die Gebär­ densprachdolmetscherinnen ca. zehn Stunden pro Lied. Dazu kommen die Textübersetzung (die Ge­ bärdensprache hat einen völlig anderen Satzauf­ bau), eine visuelle Adaption mit gehörlosen Fach­ leuten, eine Anpassung an den Rhythmus und das Einstudieren. Aber der Aufwand lohnt sich. So er­ halten die Gehörlosen einen besseren Zugang zur Musik und können den Inhalt der Texte verstehen. Sprechen trotz lauter Musik Wenn junge Hörende mit uns Gehörlosen über Gehörlosigkeit sprechen, wird oft sehr schnell die Musik angesprochen. Sie denken, dass wir sie nicht geniessen können und wir nie in die Disco gehen. Aber das stimmt nicht! Wir geniessen nicht nur Musik (Schall und Vibration), sondern tanzen auch. Und in der Disco haben wir gegenüber den Hörenden einen grossen Vorteil: Während sie wegen der Lautstärke nicht mehr miteinander plaudern können, können wir uns dank der Ge­ bärdensprache weiter unterhalten und flirten. Also, wer ist in der Disco «behindert»?!! Im Text sind z. T. Auszüge aus dem Magazin des Schweizerischen Gehörlosenbundes, 2/19. * Mitarbeitende der Hörbehindertengemeinde der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn M E N S C H E N M I T H Ö R B E H I N D E R U N G Hauptsache, viel Bass Die Musik fühlen. Sentez la musique. ©Keystone /Peter Rigaud

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