ENSEMBLE Nr. / N° 46 - März / Mars 2020

11 ENSEMBLE 2020/46 —– Dossier Und was meinen Sie mit «Offenheit»? Die konzentrierte, vertiefte Auseinander­ setzung mit sich selbst wird durch die Offenheit des Individuums für neue Eindrücke, Erlebnisse und Erkenntnisse gefördert. Offenheit bedeutet, dass auch neue Lebensbereiche emotional und geistig besetzt werden. Mit Blick auf das hohe Alter messe ich der Abkehr von körperlichen Pro­ zessen und der Hinwendung zu seelisch-geistigen Prozessen grosse Bedeutung bei. Auch die Abkehr vom eigenen Ich hin zu dem, was dieses Ich materiell und ideell umgibt, ist wichtig: die Hin­ wendung zur natürlichen, kulturell und sozial geformten Welt, zum Kosmos, zur gesamten Schöpfung. Dies aber bedeutet, dass das Indivi­ duum offen für neue Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse ist. Und was sind demgegenüber die Formen der Welt- gestaltung? «Weltgestaltung» kann mit den Begriffen «Sorge» und «Wissensweitergabe» beschrieben werden. Die «Sorge» beschreibt die erlebte und praktizierte «Mitverantwortung» für andere Men­ schen und das damit verbundene Bedürfnis, etwas für andere Menschen zu tun, deren Entwicklung und Lebensqualität zu fördern. «Sorge» meint zu­ dem nicht nur die von einem Menschen ausge­ hende, praktizierte Sorge, sondern auch die Sorge, die er von anderen erfährt. Dabei ist auch mit Blick auf Sorgebeziehungen im hohen Alter hervorzu­ heben, wie wichtig ein Geben und Nehmen von Hilfe und Unterstützung für die Akzeptanz erfah­ rener Sorge ist. Die fehlende Möglichkeit, die emp­ fangene Sorge zu erwidern, macht es schwer, In dem Masse nun, in dem Menschen offen sind für neue Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnis­ se, entwickelt sich auch das Selbst weiter. Um die besondere Sensibilität alter Menschen für alle Pro­ zesse zu umschreiben, die sich in ihrem Selbst ab­ spielen, verwende ich den Begriff «Introversion mit Introspektion». Neben den Erlebnissen, Erfah­ rungen und Erkenntnissen, die in der Begegnung mit anderen Menschen und in der Auseinander­ setzung mit der Welt gewonnen werden, spielt der Lebensrückblick eine wichtige Rolle. Dieser «Lebensrückblick» betrifft in zentraler Weise das Selbst: Inwieweit werden dem Individuum bei dieser «Spurensuche» noch einmal Aspekte seines Selbst bewusst, die dieses aus heutiger Sicht posi­ tiv oder aber eher negativ bewertet? Inwieweit gelingt es dem Individuum trotz negativer Bewer­ tungen, die eigene Biografie in ihren Höhen und Tiefen als etwas anzunehmen, das in ebendieser Gestalt stimmig, sinnerfüllt, notwendig war? In­ wieweit kann das Individuum sich selbst, aber auch anderen Menschen vergeben? Und schliess­ lich stösst die begrenzte Lebenszeit Prozesse der «Introversion mit Introspektion» an: Hier kann man auch von «Memento-mori-Effekten» spre­ chen, womit Einflüsse der erlebten Nähe zum Tod auf das Selbst gemeint sind. Im Zentrum stehen eine umfassendere Weltsicht und eine damit ein­ hergehende Ausweitung des persönlich bedeut­ samen Themenspektrums, weiter eine gelassenere Lebenseinstellung, begleitet von einer abnehmen­ den Intensität von Emotionen wie Ärger, Trauer, Reue und Freude. Zudem treten Spiritualität, Alt­ ruismus und Dankbarkeit stärker in das Zentrum des Erlebens. ©Keystone /Werner Krüper Lebensrückblick: Die eigene Bio­ grafie mit ihren Höhen und Tiefen annehmen. Bilan de vie: accepter son propre parcours avec ses hauts et ses bas.

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