ENSEMBLE Nr. / N° 46 - März / Mars 2020

12 Dossier —– ENSEMBLE 2020/46 Sorge anzunehmen. Dieser Aspekt gewinnt beson­ dere Bedeutung in Phasen erhöhter Verletzlich­ keit. Gerade in solchen Phasen sind Menschen sensibel dafür, ob sie primär als Hilfeempfangen­ de wahrgenommen und angesprochen werden oder ob sie auch in ihrer Kompetenz, selbst Hilfe und Unterstützung zu leisten, ernst genommen werden. Und was verstehen Sie unter «Wissensweitergabe»? Mit «Wissensweitergabe» ist das Fortwirken des Individuums in nachfolgenden Generationen angesprochen. Dieses Fortwirken vollzieht sich auch auf dem Wege materieller und ideeller Pro­ dukte, die das Individuum erzeugt und mit denen es einen Beitrag zum Fortbestand und zur Fort­ entwicklung der Welt leistet. Sosehr eine Person in der Erinnerung an das gesprochene Wort und die einmalige Gebärde fortlebt, sosehr Begegnun­ gen mit dieser in uns emotional und geistig fort­ wirken, so wichtig ist es auch, die materiellen und ideellen Produkte im Auge zu haben, die sich nicht notwendigerweise unmittelbaren Begegnungen mit nachfolgenden Generationen verdanken, son­ dern die in Verantwortung vor der Welt und für die Welt entstanden sind. Menschen ab 85 haben eine erhöhte Verletzlich- keit. Wie kann das gesellschaftliche Umfeld dieser Verletzlichkeit begegnen? Sehr wichtig sind hier medizinische, psycho­ logische und soziale Vorsorge, das heisst das Er­ Sorgende Gemeinschaft Kirchgemeinde Ins Silvia Käser * – Die Kirchgemeinde Ins führt gemeinsam mit der regionalen Jugendarbeit zweimal im Jahr den runden Tisch «Soziales» durch. Mitarbeitende von sozialen Institutionen, Be­ hörden und Vereinen tauschen sich über soziale Fragen aus und lernen voneinander. Auch in dem vor zwei Jahren auf Initiative der Spitex Seeland und den lokalen Seelsorgenden entstandenen Palliativnetzwerk Seeland West treffen sich verschiedene Akteure aus den Bereichen Palliative Care, Medizin und Pflege, Soziales und Spiritual Care und suchen Synergien. Wie können diese Themen niederschwellig angegangen werden? Soll für Freiwillige ein Kurs zur Begleitung von Schwerkranken auf die Beine gestellt werden? Könnte die Bildung von Gruppen für Nachtwachen pflegende Angehörige entlasten? Braucht es den Besuchsdienst von Freiwilligen der Kirchgemeinde? Als Gast­ geberin dieser Treffen gewinnt die Kirchgemeinde das Vertrau­ en als professionelle Partnerin. Indem sie die Verantwortung teilt, kann sie Menschen und Angehörigen in einer Ausnahme­ situation ein ganzheitliches Sorgenetzwerk anbieten. So ist sie Teil der «sorgenden Gemeinschaft» und Kirche für die Menschen im Alltag. * Pfarrerin in Ins kennen und Vermindern von Risikofaktoren, die Stärkung der körperlichen, seelischen und geisti­ gen Kräfte, die Förderung der sozialen Teilhabe sowie die Erhaltung der Mobilität. Hinzu kommt im Falle von Erkrankungen – neben der Therapie im klassischen Sinne – die Rehabilitation. Diese ist für die Linderung von Funktionseinbussen und die Förderung von Selbstständigkeit sehr bedeut­ sam und muss auch in Pflegeeinrichtungen be­ stimmend sein. Indem unsere Gesellschaft ihren Respekt auch vor Menschen ausdrückt, die in er­ höhtem Masse verletzlich sind, indem sie Men­ schen nicht nur auf die Verletzlichkeit reduziert, sondern sie in ihrem ganzen Reichtum erkennt und anspricht, trägt sie dazu bei, dass eine Kultur erhöhter Sensibilität für die Grenzen des Lebens entsteht, die auch dem einzelnen Menschen eine wirkliche Hilfe sein kann. Sie sprechen auch von inklusiven, generations- übergreifenden Gelegenheitsstrukturen, um alten Menschen Teilhabe zu ermöglichen. Wie sehen sie konkret aus? Hier habe ich Mehrgenerationen- und Bürger­ zentren im Auge, in denen sich Angehörige ver­ schiedener Generationen in einer ganz natürlichen Weise begegnen, füreinander Sorge tragen – ganz in dem oben beschriebenen Sinne. Wie kann seelsorglich-diakonische Begleitung hochaltrigen und demenzbetroffenen Menschen helfen, die Würde zu bewahren? Die Heilige Schrift kann auch als eine vom Glauben, von der Hoffnung und Liebe bestimmte Meditation über die Verletzlichkeit verstanden werden. Die Aussagen der Heiligen Schrift leben­ dig werden zu lassen, sie auf die alltägliche Situ­ ation und Erfahrung des Individuums zu beziehen, erscheint mir wichtig. Sodann ist der christliche Gemeindegedanke von essenzieller Bedeutung, der sich in der Seelsorge wie auch in der Diakonie widerspiegelt. Einer trage des anderen Last: Dies wäre ein Beispiel für diesen lebendigen Gemeinde­ gedanken. Und in der Verkündigung muss das oben beschriebene ganzheitliche Menschenbild verdeutlicht werden. Dabei sollte der Transzen­ denzgedanke angesprochen werden: Findet dieser im Individuum Resonanz? Was wäre aus Ihrer Sicht insbesondere für die spirituell-religiöse Begleitung zu berücksichtigen? Die Unterstützung des Individuums im Prozess der Introversion und Introspektion, wie ich ihn beschrieben habe. Zudem sollten wir der Person signalisieren, dass wir von ihr lernen können, dass wir mit Gewinn an ihren Lebens- und Glaubens­ erfahrungen teilhaben. Dies bildet den Ursprung der Gegenseitigkeit von Sorge.

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