ENSEMBLE Nr. / N° 47 - April / Avril 2020

24 Fokus —– ENSEMBLE 2020/47 Kontrovers diskutiert wurde der Ehebegriff. Laut einigen Teilnehmenden lasse er einzig die Trauung von Frau und Mann zu. Begründet wurde dies mit der Bibel und der Tradition. Andere gaben zu bedenken, der Begriff «Ehe» könne die heutigen Vorstellungen von Lebensgemeinschaften nicht mehr erfassen: «Muss der Begriff, gutreformiert, sprachlich transformiert werden?» Weiterhin zen­ trale Begriffsinhalte könnten in Anlehnung an die Queer-Theoretikerin Judith Butler sein: Atmen, Begehren, Lieben, Leben. Ebenfalls für ein breiteres Eheverständnis warb eine Gruppe, die ein «grösseres Beziehungsge­ flecht» im Blick hat und «das Eheverständnis auch losgelöst von Fortpflanzung und Sexualität disku­ tieren und entwickeln» will. «Befreit die Ehe!», stand auf ihrem Flipchart neben der Aufforderung, den «heilsamen Kern der Ehe» – füreinander Ver­ antwortung zu übernehmen – freizulegen und als Kraft zu erhalten. Andere mahnten: «Eine Segnung darf man nicht ablehnen.» Angesichts immer weniger Hei­ raten solle man sich über jene freuen, die heiraten wollen: «Wünschen zwei Menschen eine Segnung, so haben sie ein gemeinsames Projekt.» Homo­ sexualität habe oft mit dem Blick der anderen zu tun und führe zu Verurteilung und Ausschluss. «Gott allein rettet uns – zum Glück!», notierte diese Gruppe. Was bedeutet Gerechtigkeit? Die Gruppendiskussionen folgten auf das Ein­ gangsreferat von Mathias Wirth, Professor und Leiter der Abteilung Ethik am Institut für Systema­ tische Theologie der Universität Bern. Seine Aus­ führungen inspirierten viele – so auch seine Über­ legungen zur Frage, was Gerechtigkeit, bezogen auf queere Lebensformen, bedeuten könnte. Als Ableitungen von Gerechtigkeit sind ihm wichtig: Toleranz, Kompromissfähigkeit, Kontextsensibilität und Versöhnungsbereitschaft. Ihre Umsetzung begünstige ein gutes Leben («human flourishing»), ihre Nichtumsetzung führe zu Intoleranz und Feindschaft. «Vielen dürfte das als unangemessene Reaktion auf soziale Verbände erscheinen, in de­ nen Verantwortung füreinander übernommen wird.» Familie umschreibt er als Ort, wo Menschen einerseits Rückhalt erfahren und andererseits Pflichten wahrnehmen und Forderungen erfüllen, die Personen ausserhalb der Familie nicht erheben können. Damit bezieht er sich auf das «Convivere» der Genesis, das laut Wirth als essenziell bedeu­ tend für die Menschen erscheine. «Dann bedeutet die Betonung der Exklusivität einer so fundamen­ talen Praxis des ‹convivere›, wie sie das Modell der Kernfamilie bietet, queeren Personen und ihren Familien das Leben zu einem existenziellen Prob­ lem zu machen.» Liebe, Verantwortung und Verbindlichkeit zwi­ schen zwei Menschen sollten im Vordergrund stehen, nicht Geschlecht und Sexualität, betonte eine Diskussionsgruppe. Vielleicht seien es Phan­ tasien rund um die Sexualität von Queer-Men­ schen, die manche Diskussionen entgleiten oder gar nicht erst entstehen liessen. Andere forderten, neue Lebensformen sollten auf gleichbleibend wichtigen christlichen Werten wie Gerechtigkeit aufbauen können. Werde queeren Menschen ein erfülltes Leben verweigert, bedeute dies Unge­ rechtigkeit. Bezogen auf das Referat sagte eine Pfarrerin: «Wir haben viele Freiheiten und die Er­ mächtigung, das ‹flourishing›, also das Gedeihen des Lebens, zu unterstützen.» Reformiert und queer Für den konstruktiven Umgang insbesondere mit seiner These, dass queer und reformiert zusammen gedacht werden können, dankte Mathias Wirth den Pfarrerinnen und Pfarrern. Dabei führt Wirth zusammen, was üblicherweise nicht zusammen gedacht wird: «Reformierte Familie» und «queer family» sowie darauf aufbauend die theologische Ein kontroverses Thema: Soll die Kirche auch lesbische und homosexuelle Paare trauen? Un sujet contro- versé: l’Eglise doit-elle aussi marier les couples lesbiens et homosexuels? ©Keystone /CARO/ Insa Korth

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