ENSEMBLE Nr. / N° 48 - Mai / Mai 2020

11 ENSEMBLE 2020/48 —– Dossier Hügli: Beim «Wirtschaften» an sich geht es pri­ mär darum, in einem funktionierenden System Angebote bereitzustellen, die zur Bedürfnisbefrie­ digung nachgefragt werden. Das können existen­ zielle Bedürfnisse wie Nahrung oder ein Dach über dem Kopf sein. Aber in einer entwickelten, von Wohlstand geprägten und nach Selbstverwirk­ lichung strebenden Gesellschaft kann ein Bedürfnis auch ein teures Auto oder eine Ferienwohnung sein. Ein Unternehmen muss unbedingt gewinn­ orientiert arbeiten. Wenn am Ende kein Gewinn übrigbleibt, kann sich ein Unternehmen nicht wei­ terentwickeln – und auch keine Arbeitsplätze schaffen. Ohne Gewinn kann ein Unternehmen auch die Kapitalgeber nicht entschädigen, ohne die ein Unternehmen nicht wirtschaften kann. Einige Arbeitsleistungen werden schlecht oder gar nicht entschädigt, etwa in der Landwirtschaft, aber auch die Betreuung von Kindern und Älteren oder die Hausarbeit. Warum ist das so? Marti: Weil wir heute den Wert der Arbeit über ihre finanzielle Profitabilität definieren. Repro­ duktive Tätigkeiten wie Care-Arbeit schneiden in dieser Logik schlecht ab – trotz ihrem gesellschaft­ lichen Wert. Die Coronakrise zeigt uns in aller Deutlichkeit, welche Arbeiten sogenannt «system­ relevant» sind: Es sind die Krankenpfleger, die Altenpflegerinnen und das Verkaufspersonal, die dafür sorgen, dass wir diese Krise überstehen. Die­ se Berufe werden grossmehrheitlich von Frauen ausgeübt und viel zu schlecht bezahlt. Sobald wir die Coronakrise überstanden haben, müssen wir daraus die Lehren ziehen und ihnen mehr An­ erkennung zollen: Ihre Löhne müssen erhöht, ihre Arbeitsbedingungen verbessert werden. Hügli: Der Wert eines Angebots wird durch die Nachfrage bestimmt. Darüber hinaus definiert jede Gesellschaft auch entlang ihres Wertesystems und ihres Entwicklungsstadiums den Wert eines Produkts oder einer Dienstleistung. Diese verlan­ gen je nach Wert auch eine entsprechende Quali­ fikation der Menschen, deren Leistung ihren Preis hat. Und so gibt es ganz viele Berufsgruppen, die etwas anbieten, mit dem wir unsere Grundbedürf­ nisse decken können und die gleichwohl in der Lohnskala nicht weit oben sind. Allerdings gibt es viele Berufsgattungen, die ebenfalls sehr direkt die Grundbedürfnisse decken und gut entschädigt werden: etwa Ärzte, Ingenieure, Psychologinnen oder Pensionskassenangestellte. Welche Arbeiten sollen bezahlt werden? Marti: Jede sinnhafte Arbeit soll bezahlt werden. Hügli: Das bestimmt wiederum das Wertever­ ständnis einer Gesellschaft und die Verfügbarkeit jener, die eine nachgefragte Arbeitsleistung in einer gewünschten Qualität erbringen. Es ist für mich selbstverständlich, dass Arbeiten, denen die Gesellschaft einen Preis gibt, auch fair entschädigt werden. Aber ich finde es ebenso selbstverständ­ lich, dass jedes Individuum in einer Gesellschaft ehrenamtliche Tätigkeiten übernimmt. Sie sind unendlich wertvoll, auch wenn sie nicht entlohnt werden. Dennoch sind jene, die sie ausführen, glücklich, weil sie einen sinnstiftenden Beitrag zu einem grösseren Ganzen leisten. Welche alternativen Formen der Anerkennung und Entschädigung von unbezahlter (Care-)Arbeit könnten etabliert werden? Marti: Heute übernehmen Frauen den aller­ grössten Teil dieser Arbeit. Dafür verzichten sie auf Einkommen. Die Folgen sind tiefere Löhne und Renten und weniger Zeit und Anerkennung. Nur mit einer radikalen Reduktion der Erwerbsarbeits­ zeit wird eine Umverteilung der Care-Arbeit hin zu den Männern möglich sein. Einige negative Folgen der unbezahlten Care-Arbeit würden damit erheblich reduziert. Aber am Schluss müssen wir uns fragen, welche Rolle Care-Arbeit in unserer Gesellschaft einnehmen soll. Für mich ist klar: eine zentrale. Hügli: Aus der Forschung wissen wir, dass sinn­ stiftende unentgeltliche Arbeit glücklich macht. Und wir wissen auch, dass deren Bezahlung das Glücksgefühl und die Motivation für diese Tätig­ keit schmälert, weil dann die ökonomischen Ver­ gleichsmassstäbe gelten. In der Coronakrise helfen Franziska Hügli: «Sinnstiftende unentgeltliche Arbeit macht glücklich.» ©zVg

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