ENSEMBLE Nr. / N° 48 - Mai / Mai 2020

4 Dossier —– ENSEMBLE 2020/48 EINE WIRTSCHAFT FÜR DIE MENSCHEN ANNÄHERUNGEN AN EIN «GUTES LEBEN FÜR ALLE» UNE ÉCONOMIE AU SERVICE DE L’HUMAIN COMMENT SE RAPPROCHER D’UNE «VIE BONNE POUR TOUS LES HUMAINS»? Unser heutiges Wirtschaftsverständnis dreht sich vor allem um eines: den Markt. Doch eine Wirtschaft für die Menschen und die Natur ist weit mehr. Ein Essay aus transformationsökonomischer Perspektive. Von Jürg Minsch* Der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi nannte in «The Great Transformation» vier sich gegenseitig verstärkende Ursachen für die erste industrielle Revolution: Der wissenschaftliche Fortschritt, der ungeahnte technische Möglichkeiten mit sich brachte, eine entstehende Unternehmerschaft, die diese gewinnbringend nutzte, sowie sich aus­ differenzierende Märkte und sich formierende demokratische Rechtsstaaten, die diese Entwick­ lungen beschleunigten und absicherten. Eine Dynamik, die bis heute wirkt. Im Kraftfeld des Marktes Im Zentrum dieser gesellschaftlichen und wirt­ schaftlichen Entwicklung steht der Markt. Oder in einem Bild gesprochen: So wie das Kraftfeld eines mächtigen Himmelskörpers die Bahnen anderer Planeten beeinflusst, verschiebt der Markt die Bedeutung zentraler Begriffe der Gesellschaft – und reduziert facettenreiche, vieldimensionale Ideen auf wenige Funktionen: Der «Mensch» wird auf seine Funktion als Arbeitskraft und Konsument reduziert, die «Natur» zur blossen Ressource in einer eindimensionalen Verwertungslogik de­ gradiert. Natürlich gibt es auch Versuche, den Menschen und der Natur wieder gerechter zu werden. Doch die Anstrengungen der Umwelt- und Sozialpolitik, der Entwicklungszusammenarbeit oder auch zivil­ gesellschaftlicher Initiativen sind gegen die Schwerkraft des Marktes nur bedingt erfolgreich. Was genau hält das wirtschaftspolitische Denken und Handeln in seinen heutigen Bahnen fest? Die Beschäftigung mit einem dritten Begriff – dem «Wert» – bietet interessante Einsichten. Ein eindimensionaler Wertbegriff Die Wertfrage war einst eine der zentralen Fragen der Wirtschaftswissenschaften und befeuerte lei­ denschaftliche Diskussionen. Doch im Zeichen des sogenannten selbstregulierenden Marktes stellt sich diese Frage nicht mehr. Der vielschichtige Begriff des «Wertes» wird mit dem Marktpreis gleichgesetzt und der gesellschaftliche Wohlstand auf das Sozialprodukt reduziert. Damit ist jeder tiefergehenden Frage nach dem Sinn und Wert eines Produktes oder des wirtschaftlichen Wachs­ tums die Legitimation entzogen. Geradezu unge­ hörig wäre es etwa zu fragen, ob all die Güter, die in den letzten Jahren auf den Markt kamen, es wirklich wert waren, produziert zu werden: Wel­ chen Nutzen stiften sie? Und für wen? Im dominierenden Wirtschaftsverständnis fin­ det Wertschöpfung nur auf dem Markt statt. Tätig­ keiten in anderen gesellschaftlichen Bereichen, etwa nachbarschaftliche Kooperationen oder Dienstleistungen der öffentlichen Hand, geraten aus dem Blick oder gelten gar als unproduktiv. Oder sie werden als selbstverständlich vorausge­ setzt, etwa das Rechtswesen oder das Bildungs­ system. Das Zentrum der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung – der Markt – er­ scheint als die Quelle der Wertschöpfung. Eine veraltete Doktrin Der eindimensionale Wertbegriff bestimmt auch die Wirtschaftspolitik. Mit dem Ziel, durch die Ver­ mehrung der vermarktbaren Güter die Wirtschaft zum Florieren zu bringen, wird eine «Politik der billigen Zentralressourcen» verfolgt. Diese Doktrin * Jürg Minsch ist Ökonom und Lehrbeauftragter für Ökologische Ökonomie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)

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