ENSEMBLE Nr. / N° 49 - Juni / Juin 2020

28 Kreuz und quer —– ENSEMBLE 2020/49 Menschen mit einer Behinderung sind eine grosse Bereicherung für die Gesellschaft und die Kirche: «Ihre ganz eigenen Ausdrucks- möglichkeiten schaffen neue Zugänge zu scheinbar Bekanntem. Freude und Schmerz können ganz unmittelbar erfahren werden», ist Pfarrer Willy Niklaus überzeugt. Von Helena Durtschi Sager* Willy Niklaus ist Pfarrer in der Kirchgemeinde Thurnen und Seelsorger für Menschen mit einer Behinderung bei der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Freiburg. Ein wichtiger Teil seiner Arbeit sind Feiern und Rituale, die regel­ mässig in Institutionen für erwachsene Menschen mit einer Behinderung im deutschsprachigen Teil des Kantons Freiburg angeboten werden. Zu den Feiern gehören das Erzählen einer biblischen Ge­ schichte und das gemeinsame Singen. Den Ab­ schluss bildet ein Kerzenritual, bei dem sich jede Person wünschen kann, ob für sie gebetet oder gesungen werden soll. «Wir singen zusammen und hören eine Geschichte. Manchmal basteln wir etwas. Und wir zünden jedes Mal Kerzen an. Dabei singen und beten wir. Das mache ich gerne», er­ zählt Monika aus der Kirchgemeinde St. Antoni. Offen für alle ... Beim letztjährigen Weihnachtsspiel war Monika die Verkünderin der Volkszählung. Nebst ihr brachten sich vierzig weitere Menschen auf ihre je eigene Art und Weise ein, spielten und gestal­ M E N S C H E N M I T B E E I N T R Ä C H T I G U N G Füreinander zum Segen werden teten mit. Die Engel gesellten sich spontan zu den Hirten am Feuer und wärmten sich gemeinsam die Hände. «Menschen mit einer Behinderung le­ ben ein anderes Tempo, sie nehmen anderes wahr und können uns neue Zugänge zum Leben eröff­ nen. So entstehen Räume, in denen wir alle für­ einander zum Segen werden», ist Willy Niklaus überzeugt. Menschen mit einer kognitiven Behinderung sind häufig sehr offen und leben ganz im Moment: im Lied, im Schmerz, in der Angst, der Freude. Diese Offenheit macht es möglich, dass Gottesdienste ge­ meinsam gestaltet werden. Im Mitenand-Gottes­ dienst zur Geschichte vom Seesturm übernimmt Rolf das Regenrohr, Germann spielt das Schwyzerörgeli, eine Gruppe besteigt das farbige Karton-Schiff. Joni schlüpft in die Rolle von Jesus, er breitet seine Arme aus und gebietet dem Sturm Einhalt. Und Alios ist das Kätzchen Schnurrli, das im Sturm beim schla­ fenden Jesus Schutz findet. Der blinde Claudio be­ gleitet die Feier auf dem Keyboard. Die Sturmgeräu­ sche, die er seinem Instrument entlockt, gehen unter die Haut. Auch Monique und ihre Söhne Alain und Joel mit ihren Gitarren gehören dazu. Ebenso die Religionsschüler, die mit Tüchern den Sturm ent­ fachen. Der Gottesdienst wird so zu einem inklusiven Erlebnis, das tief berührt.  ... Solidarisch mit den Leidenden Menschen mit einer kognitiven Einschränkung leiden nicht mehr oder weniger als andere Men­ schen. Im Gegenteil: Oft stecken sie Menschen ohne derartige Einschränkung mit ihrer Freude und Spontanität an. «Der Leitsatz ‹Solidarisch mit den Leidenden› der Vision ist nicht unproblematisch. Er kann auch falsch interpretiert werden. Men­ schen ohne sichtbares Handicap sollten Menschen mit einer Behin­ derung nicht als Leidende abstem­ peln», gibt Willy Niklaus zu beden­ ken. Leiden entsteht dort, wo behinderte Menschen ausgegrenzt werden oder wo über sie verfügt wird. Die Begegnung mit behinder­ ten Menschen kann helfen, offene wie auch subtile Diskriminierungen zu erkennen und zu verhindern. ©zVg Mitenand-Gottes- dienste sind offen für alle: Monika verkündet als Herold die Volks- zählung. Les services du Mitenand sont ouverts à tous: Monika annonce le recensement comme un messager. * Theologin und Sozialarbeiterin, Bereich Sozial-Diakonie der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc3MzQ=