ENSEMBLE Nr. / N° 53 - November / Novembre 2020

18 Fokus —– ENSEMBLE 2020/53 Auch Dominique Wetli erachtet das Rollenver­ ständnis der Akteure für die Weiterentwicklung des «Schutzsystems im Sinne der Flüchtlingskon­ vention» als zentral: «Wir müssen die Rollen in jeder Anhörung erkennen und prüfen», sagte der Geschäftsleiter der Rechtsberatungsstelle für Men­ schen in Not, die für den Rechtsschutz in den Bundesasylzentren in Zürich und Bern zuständig ist. Schnelle Verfahren seien jedoch nicht auto­ matisch auch unfair. Der kostenlose Rechtsschutz sei ein Erfolg, die Zusammenarbeit mit dem SEM gut, die Verfahren korrekt und fair. In der Nothilfe gefangen Auch wenn es also da und dort noch Optimie­ rungsbedarf gibt – das neue Asylsystem scheint seinen Zweck zu erfüllen: Die Asylsuchenden werden umgehend mit ihren Perspektiven kon­ frontiert, Schutzbedürftige erhalten rasch Asyl, Abgewiesene Unterstützung bei ihrer Rückkehr in die Heimat. Die freiwilligen Ausreisen sind denn auch um einen Drittel gestiegen. Doch für einige der abgewiesenen Asylsuchenden, etwa aus Eritrea und Tibet oder Afghanistan und Äthio­ pien, ist eine Rückkehr nicht möglich. Sie bleiben in der Schweiz, ohne Aussicht auf Integration, ohne Recht auf Arbeit – und leben von Nothilfe, die für ein menschenwürdiges Leben bei weitem nicht ausreicht. Ende 2019 waren in der Schweiz 3227 abgewiesene Asylsuchende von Nothilfe ab­ hängig, 71 Prozent von ihnen seit mehr als einem Jahr. Im Kanton Bern leben sie isoliert in sogenann­ ten Rückkehrzentren (vgl. Seite 20). Als Zwischen­ halt gedacht, werden sie für viele zur Endstation. Diese Perspektivlosigkeit hinterlässt Spuren. Lau­ rence Gygi, OeME-Beauftragte der Kirchgemeinde Wohlen, brachte das Befinden der Menschen in der Langzeitnothilfe zu Beginn des Podiums auf den Punkt: «Es ist fast ein Schrumpfen der Perso­ nen. Ihre Deutschkenntnisse verschlechtern sich, sie werden phlegmatisch oder hyperaktiv. Sehr oft höre ich Fragen nach dem Sinn, ihremWert, nach Gerechtigkeit – und dass es besser wäre, tot zu sein.» Die Grenzen des Rechtsstaats Wie soll die Kirche auf diese unwürdige Situation reagieren? Was soll sie tun, wenn demokratisch beschlossenes Recht zu unmenschlicher Härte führt? «Dass Leute in unserem Land jahrelang in der Nothilfe dahinvegetieren, mahnen wir seit einer ganzen Weile an. Doch wir stellen vonseiten Das Netzwerk Joint Future, ein Zusammen- schluss von rund 140 Mitarbeitenden und Freiwilligen aus kirchlichen Migrations- und Integrationsprojekten, widmete sich an seiner diesjährigen Tagung in Konolfingen den Erfolgen und Herausforderungen im neuen Asylverfahren. Höhepunkt war das Podium zur asylpolitischen Rolle der Kirche. Von Olivier Schmid Seit Inkrafttreten des neuen Asylgesetzes hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) rund 54 Pro­ zent aller Asylgesuche im Rahmen des beschleu­ nigten Verfahrens behandelt – durchschnittlich in nur 50 Tagen. Noch schneller ging es bei den Dublin-Fällen. Die Verfahrensdauer hat sich mit 35 Tagen fast halbiert. Auch im erweiterten Ver­ fahren arbeitete das SEM effizient. Ein Entscheid lag im Durchschnitt bereits nach 100 Tagen vor. «Eine Beschleunigung der Verfahren wurde er­ reicht», bilanzierte Claudio Martelli, Vizedirektor des SEM. «Ich will aber nicht verhehlen, dass es Startschwierigkeiten gegeben hat.» Einige Gesuche hätten nicht dem beschleunigten, sondern dem erweiterten Verfahren zugewiesen werden sollen. «Das neue Asylsystem funktioniert noch nicht per­ fekt, aber es funktioniert», lautete sein Fazit. Nicht auf Kosten der Fairness Dass nur 19 Prozent der Asylgesuche dem erwei­ terten Verfahren zugewiesen wurden, bemängel­ te auch Peter Meier, Leiter Asylpolitik bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH). Zwar be­ grüsse die SFH eine Beschleunigung der Verfah­ ren. Schutzbedürftige sollen rasch in der Schweiz integriert, der Anreiz für unbegründete Asylge­ suche gesenkt werden. Eine Beschleunigung dür­ fe aber nicht auf Kosten von Fairness und Qualität gehen. Komplexe Fälle würden zu selten dem er­ weiterten Verfahren zugeteilt. Ungenügende Ab­ klärungen, insbesondere bei Asylsuchenden mit gesundheitlichen Problemen, hätten zum Teil zu inkorrekten Entscheiden geführt. Es brauche zwi­ schen dem SEM und den zivilgesellschaftlichen Akteuren eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, forderte Meier: «Der Systemwechsel bedingt einen Kulturwandel, ein neues Rollenverständnis und ein Zusammenspiel aller involvierten Akteure – das Bewusstsein dafür ist nach wie vor ungenü­ gend verankert.» A S Y L P O L I T I K Was ist Recht, was Gerechtigkeit?

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