ENSEMBLE Nr. / N° 53 - November / Novembre 2020

20 Fokus —– ENSEMBLE 2020/53 dezentrale Lage noch weiter zu isolieren, scheint aufzugehen, wie die Schilderung eines 30-jährigen Tibeters zeigt: «Meine Freunde wohnen alle in Bern. Wie kann ich mir ein Zugticket von Ins nach Bern für acht Franken und zehn Rappen leisten, wenn ich mit acht Franken pro Tag auskommen muss?» Abgewiesene Asylsuchende dürfen keiner Arbeit nachgehen; die Aufbesserung des Nothilfe­ betrags ist also ausgeschlossen. Neuerdings fällt auch die Möglichkeit weg, mit Arbeiten in den Asylzentren einen kleinen Zusatz­ verdienst zu erhalten. Die Folgen: Heute fühlt sich niemand mehr ver­ antwortlich für die Reinigung der Infrastruktur. «Familien schrubben aus Angst vor Krankheiten die Küche im Zentrum Aarwangen, doch diese ist innert Kürze wieder völlig ver­ schmutzt», weiss Charlotte Gutscher, die den Berner Mittagstisch betreut und viele Sorgen der Besuchenden kennt. Sie spricht von einem «radi­ kalen Systemwechsel», der die ver­ gangenen Monate vollzogen wurde. Etliche Menschen erzählten ihr auch, dass sie sich vom Betreuungs­ personal deutlich distanzierter und kühler behandelt fühlen als frü- her – auch das sei wohl vom neuen System so gewollt. Eine weitere Sorge der Betrof­ fenen: Durch die tägliche Unter­ schriftspflicht können sie die Zentren nie für ein paar Tage verlassen und beispielsweise eine un­ beschwerte Zeit bei Freunden geniessen. Der jun­ ge Asylsuchende aus Tibet spricht denn auch von einem «offenen Gefängnis», in welchem er seine Tage, ja seine Zukunft verbringen muss. Seine Situation zeigt das Dilemma vieler Langzeitnot­ hilfebeziehenden auf. Der Staat will sie zum Ver­ lassen der Schweiz bewegen, doch viele von ihnen können nicht in ihre Heimat zurückkehren. Über die Hälfte der Nothilfebeziehenden leben seit mehr als einem Jahr von Nothilfe – weil sie aus unter­ schiedlichen Gründen nicht ausreisen können oder wollen. Edem Togbetse sagt: «Die Menschen gehen ganz langsam kaputt – die langfristigen Folgen sind auch für den Staat hoch.» Und Charlotte Gutscher ergänzt: «Unser Staat bestraft diese Menschen, als hätten sie ein Unrecht begangen.» Dabei haben sie in der Schweiz lediglich um Schutz ersucht – in der Hoffnung auf ein würdiges Leben. Seit ein paar Monaten leben abgewiesene Asylsuchende im Kanton Bern in sogenannten Rückkehrzentren. Was macht diese neue Situation mit den Betroffenen? Von Selina Leu Die Momente der Freude sind rar im Leben von abgewiesenen Asylsuchenden. Wer sich mit acht Franken pro Tag durch den Alltag kämpfen muss, kann sich weder eine Zugfahrt noch ein gesundes, reichhaltiges Essen leisten. Der ökumenische Mit­ tagstisch für abgewiesene Asylsuchende und Sans- Papiers in der St. Marienkirche in Bern hat daher für viele Menschen in der Nothilfe eine ganz be­ sondere Bedeutung. Jeden Donnerstag bekocht ein Team die Anwesenden und sorgt auch für de­ ren psychisches Wohl. Edem Togbetse, Verant­ wortlicher vor Ort, sagt: «Diese Menschen erfahren im Alltag so viel Ablehnung. Hier sind sie willkom­ men, wir hören ihnen zu.» Und Zuhören und An­ teilnahme ist nötig, denn die Situation der betrof­ fenen Menschen hat sich in den vergangenen Monaten nochmals drastisch verschlechtert. Wa­ ren abgewiesene Asylsuchende früher in den Kol­ lektivunterkünften für Asylsuchende unterge­ bracht, so leben sie seit diesem Sommer in einem der drei sogenannten kantonalen Rückkehrzent­ ren in Gampelen, Biel-Bözingen oder Aarwangen. Die Strategie des Kantons, die Menschen durch die N E U S T R U K T U R I E R U N G D E S A S Y L - U N D F L Ü C H T L I N G S B E R E I C H S «Ein radikaler Systemwechsel» ©Stefan Maurer «Hier sind sie willkommen, wir hören ihnen zu»: Mittagstisch für abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers in der St. Marien­ kirche in Bern. «Ici, ils sont les bienvenus, nous les écoutons»: repas de midi pour les demandeurs d’asile déboutés et les sans-papiers à la St. Marien­ kirche de Berne.

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