ENSEMBLE Nr. / N° 55 - Januar / Janvier 2021

11 ENSEMBLE 2021/55 —– Dossier viele Menschen mit unentgeltlicher Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft. Und die Coronakrise hat gezeigt, dass gerade die unterbe- zahlten Jobs unverzichtbar sind. Sollte jede Arbeit gleich entlöhnt werden? Aus meiner Sicht eigentlich ja. Arbeit ist ein­ fach Arbeit. Und eine Stunde ist eine Stunde. Man glaubt, man müsse den Leuten finanzielle Anreize geben, damit sie sich anstrengen. Doch der Lohn sollte nicht primär von der Art der Arbeit oder von der Leistung abhängen. Die Menschen sollen mög­ lichst das machen, was sie gerne machen. Die Orientierung am Geld entfernt sie von ihren in­ trinsischen Motivationen, die enorm kreativ und wirksam sein können. Heute bestimmt angeblich der Markt den Wert von Arbeit, der aber oft will­ kürlich festgelegt ist und mit Leistung wenig zu tun hat. Viele Leute arbeiten viel und verdienen wenig. Und einige arbeiten wenig und verdienen viel. Die forcierte Konkurrenz unterläuft die Soli­ darität. Wir müssen Geld und Arbeit in ein aus­ gewogenes Verhältnis bringen. Und jetzt vor allem die unteren Löhne anheben. Braucht es für die Existenzsicherung zumindest teilweise eine Entkopplung von Arbeit und Ein- kommen, etwa durch ein bedingungsloses Grund- einkommen? Unsere Existenzsicherung ist einseitig erwerbs­ orientiert. Das ist riskant. Die Digitalisierung kann einen weiteren Rationalisierungsschub mit sich bringen. Eine Existenzsicherung, die Erwerbs­ arbeit und Einkommen teilweise voneinander ent­ koppelt, liegt darum auf der Hand – etwa indem wir die Ergänzungsleistungen für AHV- und IV-­ Beziehende auf alle Haushalte ausweiten, die kein existenzsicherndes Einkommen haben. Das wäre einfach realisierbar und würde uns nur wenige Prozente des Bruttoinlandprodukts kosten. Und das Grundeinkommen? Seine Verfechter sagen, finanziell sei es ein Nullsummenspiel. Die Debatte über ein bedingungsloses Grund­ einkommen finde ich sehr wichtig, weil sie die Frage nach dem Sinn von Arbeit und Leben in den Mittelpunkt rückt. Wir sind sehr einseitig auf die Lohnarbeit fokussiert. Dabei werden jährlich in der Schweiz neun Milliarden Stunden an unbe­ zahlter Arbeit geleistet, die auch einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft erbringen. Ich habe darum Sympathien für die Idee eines bedingungs­ losen Grundeinkommens, aber auch Fragen. Etwa zur Finanzierung. Denn zur Debatte steht unter anderem auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Der Umverteilungseffekt wäre dann viel weniger stark als bei progressiven Steuern. Entscheidend ist auch die Höhe des Grundeinkommens. Es darf die Ansätze der Sozialversicherungen nicht unter­ laufen und muss existenzsichernd sein. Beim Null­ summenspiel bin ich unsicher. Welche Ausrichtungen hätte eine Teilentkopplung von Arbeit und Einkommen auf die Gesellschaft, auf die individuelle Lebensgestaltung und die Arbeit? Eine Teilentkopplung würde den Menschen den Rücken stärken und ihnen mehr Sicherheit geben, so dass sie nicht auf Teufel komm raus er­ folgreich sein müssen mit allem, was sie tun. Dies würde kreative Energien freisetzen, das soziale Zusammenleben fördern und demokratische Prozesse stärken. Glauben Sie, dass wir die soziale Ungleichheit jemals überwinden? Obwohl der Glaube unserer Eltern, dass es kommende Generationen einmal besser haben werden, verloren gegangen ist, bin ich eher zu­ versichtlich. Zwar dürfte sich die soziale Ungleich­ heit in den nächsten Jahren noch verschärfen, doch gibt es ganz viele Leute, die sich trotz unse­ rer ökonomisierten Gesellschaft sozial verhalten. Und der breite Konsens, während Corona einzelne Bevölkerungsgruppen besonders zu unterstützen, ist nicht selbstverständlich. Ob wir es schaffen, die soziale Ungleichheit zu überwinden, hängt stark von der Bereitschaft der Menschen ab, sich für mehr soziale Gerechtigkeit zu engagieren. Menschen sind lernfähig, Systeme auch. © zVg Ueli Mäder

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