ENSEMBLE Nr. / N° 55 - Januar / Janvier 2021
4 Dossier —– ENSEMBLE 2021/55 IM DIENST DES ARMEN NÄCHSTEN GELD UND GEIST – EIN GEGENSATZ, DER KEINER SEIN DÜRFTE AU SERVICE DE NOTRE PROCHAIN DANS LE BESOIN ARGENT ET ESPRIT: UNE CONTRADICTION QUI NE DEVRAIT PAS L’ÊTRE Der Umgang mit Geld und Fragen rund um wirtschaftliche Gerechtigkeit sind in der Bibel alles andere als nebensächlich. Der Theologe Matthias Zeindler über die verführerische Macht des Geldes und unsere Verantwortung gegenüber Gott. Von Matthias Zeindler* Sprechen wir für einmal nicht von Jeremias Gott helf und seinem Roman «Geld und Geist», sondern von Friedrich Dürrenmatt. Erstens, weil Dürren matt am 5. Januar 2021 seinen hundertsten Ge burtstag feiern würde. Und zweitens, weil er viel leicht das wichtigste Theaterstück zum Thema «Geld und Geist» geschrieben hat. Am 29. Januar 1956 wurde im Schauspielhaus Zürich «Der Besuch der alten Dame» uraufgeführt, eine «tragische Komödie». Das Stück wurde zu einem Welterfolg, und es gehört bis heute zu den meistgespielten Dramen. Die Geschichte ist einfach und schnell erzählt: Claire Zachanassian, früher Kläri Wäscher, kehrt als steinreiche Milliardärin in ihr früheres Heimatdorf Güllen zurück. Güllen ist ein herunter gekommenes, verarmtes Kaff. Claire will dem Dorf eine Milliarde schenken, unter der Bedingung, dass ihr früherer Liebhaber Alfred Ill getötet wird. Alle sind entsetzt und lehnen das Angebot dezi diert ab. Die kalte Reaktion der Zachanassian: «Man kann alles kaufen.» Und so kann sie genüss lich zusehen, wie die Gemeinde langsam der Ver suchung nachgibt, wie immer mehr Leute auf Pump einkaufen – und am Ende Alfred Ill opfern. «Man kann alles kaufen» – der Pfarrerssohn Friedrich Dürrenmatt kennt die Bibel. Er kennt auch deren klaren Blick für die Verführungsmacht des Geldes. Er weiss, dass Jesus gesagt hat: «Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.» Ein Satz, den Jesus nie gesagt hätte, wenn die Menschen dies nicht immer wieder zu tun ver suchten – sowohl dem Geist wie auch dem Geld zu Diensten zu stehen. Reichtum und Habgier in der Bibel In der Bibel liest man mit fast schon penetranter Häufigkeit Sätze über Reichtum, Armut, Habgier und Freigebigkeit. Der Umgang mit Geld und Fragen rund um wirtschaftliche Gerechtigkeit sind in den biblischen Texten alles andere als neben sächlich, beides gehört für sie in die Mitte des christlichen Lebens. Nur einige Beispiele: In den Gebotssammlun gen des Alten Testaments spielt der Schutz von armen Menschen eine zentrale Rolle. «Du sollst das Recht deines Armen nicht beugen» (Ex 23,6), heisst es da, oder: «Arme wird es bei dir nicht ge ben» (Dtn 15,4). Gott ist als ein Gott gezeichnet, der «vor der Hand des Starken den Armen» rettet (Hi 5,15). Er «erhört die Armen» (Ps 69,34). Es über rascht deshalb nicht, dass die Propheten harsche Kritik äussern, als sich in Israel eine wohlhabende Schicht bildet, die sich auf Kosten von wirtschaft lich Schwächeren bereichert. Der Prophet Jesaja etwa greift zu beissendem Sarkasmus, um den zur Schau gestellten Reichtum der mehrbesseren Je rusalemer Damenwelt zu geisseln: «Weil die Töch ter Zions hochmütig geworden sind und mit ge strecktem Hals und mit geschminkten Augen spazieren, weil sie trippeln, wenn sie daherstol zieren, und mit den Spangen an ihren Füssen klim * Leiter des Bereichs Theologie der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und Titularprofessor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern «Jeder von uns steht in der Gefahr, vom Geld regiert zu werden.»
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