ENSEMBLE Nr. / N° 55 - Januar / Janvier 2021

6 Dossier —– ENSEMBLE 2021/55 pern, wird der Herr den Scheitel der Töchter Zions kahl machen, und ihre Stirn wird der Herr ent­ blössen» (Jes 3,16-17). Das Neue Testament schliesst hier nahtlos an. Der zitierte Satz von Jesus über Gott und den Mam­ mon steht bei weitem nicht allein. Die Radikalität Jesu bleibt dabei hinter derjenigen der Propheten nicht zurück: «Selig ihr Armen – euch gehört das Reich Gottes» (Lk 6,20), und kurz darauf: «Doch wehe euch, ihr Reichen – ihr habt euren Trost schon empfangen» (Lk 6,24). Das folgende Bild ist allgemein bekannt: «Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Reich Gottes» (Mt 19,24). Und nicht weniger scharf der Jakobus­ brief: «Wohlan, ihr Reichen, weint nur und jam­ mert über das Elend, das über euch kommen wird» (Jak 5,1). Gleichsam eine Zusammenfassung dieser Aussagen liefert der 1. Timotheusbrief: «Die Wur­ zel aller Übel ist die Liebe zum Geld» (1  Tim6,10). Gott will keine Armen Es ist nicht so, dass die Bibel etwas gegen den Reichtum hat. Die biblischen Autoren führen keine «Neid-Debatte». Figuren wie Abraham oder Hiob etwa werden durchaus positiv als wohlhabende Männer geschildert. Problematisch sind materiel­ le Güter wegen ihrer Verführungskraft, dadurch, dass sie Menschen versklaven können. Und, vor allem, weil sie Gemeinschaft zerstören, weil der Drang nach Reichtum das Zusammenleben kor­ rumpiert. In der Bibel findet sich deshalb nicht nur Kritik an ungerechtem Reichtum und der Gier nach immer mehr, sondern auch der positive Gegenentwurf. Im Alten Testament ist dies die Vor­ stellung eines Volkes Gottes, in dem sich keiner zum Nachteil des Anderen wirtschaftliche Vor­ teile verschafft. Im Neuen Testament, in der Apos­ telgeschichte, wird vom Leben der jungen christ­ lichen Gemeinde erzählt: «Es gab niemanden unter ihnen, der Not litt, denn die, welche Land und Häuser besassen, verkauften, was sie hatten, und brachten den Erlös des Verkauften und legten ihn den Aposteln zu Füssen; und es wurde einem jeden zuteil, was er nötig hatte» (Apg 4,34-35). Es handelt sich hier nicht um einen historischen Be­ richt, sondern um eine Vision. Um die Vision einer Gemeinschaft von Menschen, die entdeckt haben, wie reich Gott uns alle beschenkt hat und weiter beschenkt, und die in ihrem Zusammenleben etwas davon abbilden will. Schlicht ausgedrückt: Gott will keine Armen, und deshalb soll es auch in der christlichen Gemeinde keine Armut geben. Wo dies wahr wird, haben Geld und Geist aufge­ hört, ein Gegensatz zu sein. Wem gehört das Geld? Es überrascht nicht, dass die Kirche angesichts dieses deutlichen biblischen Zeugnisses immer wieder vor der Frage stand, wie Christenmenschen und sie selbst als Gemeinschaft mit Geld umgehen sollen. Im 4. Jahrhundert, als zunehmend reiche Menschen zur Kirche stiessen und ihr beträchtli­ che Vermögenswerte zuflossen, formulierte der Kirchenvater Augustin den Grundsatz, das Geld der Kirche sei das «Gut der Armen, das die Kirche lediglich verwaltet». Die Reformatoren setzten sich eingehend mit Eigentumsfragen auseinander. Materieller Besitz sei in seiner Funktion für die Gemeinschaft zu betrachten. Der Umgang mit dem Geld muss den Kriterien der Gerechtigkeit und der Liebe folgen. Eigentum ist immer bloss von Gott geliehen, der Eigentümer deshalb grund­ sätzlich nur Verwalter. Als Verwalter seines Eigen­ tums ist der Mensch Gott Rechenschaft schuldig darüber, wie er mit seinem Lehen umgeht. Nicht nur das Geld der Kirche steht laut den Reformatoren im Dienst des Nächsten – und be­ sonders des armen Nächsten –, auch das private Eigentum untersteht dieser Sozialverpflichtung. In diesem Verständnis von Besitz und Reichtum ist der Kern dessen enthalten, was wir in Altem und Neuem Testament zum «Mammon» lesen – zur Macht des Geldes über die Seelen der Menschen, über die gemeinschaftszerstörerischen Möglich­ keiten des Besitzes. Gleichzeitig gibt das reforma­ torische Verständnis des Eigentums einen Schlüs­ sel an die Hand, wie Christenmenschen in einer Welt handeln sollen, in welcher es Geld nicht nur gibt, sondern wo Geld eine schlechthin beherr­ schende Rolle spielt. Es ist keine Polemik, sondern eine Tatsachenfeststellung, dass Geld die Welt regiert. Und dass deshalb auch jeder von uns in der Gefahr steht, vom Geld regiert zu werden. Der Besitz steht im Dienst des armen Nächsten, und dafür sind wir Gott gegenüber in der Verant­ wortung: Dieser Grundsatz gilt nicht nur für die individuelle christliche Ethik. Ihn hat die Kirche auch gegenüber der Gesellschaft geltend zu machen. Damit überschreitet sie keine Grenze, sondern nimmt schlicht ihren Auftrag wahr, «alles Unrecht sowie jede leibliche und geistige Not und ihre Ursachen» zu bekämpfen (Verfassung der Evang.-ref. Landeskirche des Kantons Bern, Art. 2 Abs. 4). Fragen der gerechten Verteilung, sei es zwischen Ländern des Nordens und des Südens, sei es im eigenen Land zwischen den höchsten und den tiefen Einkommen, sind auch ein Thema «In der Bibel findet sich nicht nur Kritik an der Gier, sondern auch der positive Gegenentwurf.»

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