ENSEMBLE Nr. / N° 56 - März / Mars 2021
18 Doss i er —– ENSEMBLE 2021 /56 Von Frank Mathwig * – Die Langzeitnothilfe verfolgt zwei konfliktreiche Zielsetzungen. Ein menschen würdiges Dasein soll mit Leistungen garantiert werden, die eine möglichst abschreckende Wir kung entfalten. Der Staat signalisiert abgewiese nen Asylsuchenden: Wir garantieren dir die Grundlagen für ein Leben, das so perspektivlos ist, dass du es für dich nicht wollen kannst. Unter «Nothilfe» begegnen uns in der jüngeren Vergangenheit höchst umstrittene Massnahmen: militärische Einsätze als «humanitäre Interventio nen», die Androhung polizeilicher Folter, um In formationen aus einem Entführer herauszupres sen, oder die Schaffung möglichst unattraktiver Lebensbedingungen für abgewiesene Asylsu- chende. Die Szenarien stimmen in drei Hinsichten überein. Erstens: Der Staat oder staatliche Organe reagieren auf eine Notlage: auf menschenverach tende Gewalt eines anderen Staates gegen die eigene Bevölkerung, auf die Lebensgefahr eines Entführungsopfers oder auf die prekäre Situation von Menschen, die aus dem Asylsystem heraus fallen. Zweitens: Die Hilfeleistung verstösst direkt oder indirekt gegen geltendes Recht oder eine etablierte rechtsstaatliche Praxis. Und drittens: Die «Hilfe» schafft mit der Abwendung einer be stehenden Not selbst eine neue Notlage. Macht und Ohnmacht des Rechtsstaats Aus ethischer Sicht geht es um Güterabwägungen. Für viele abgewiesene Asylsuchende steht das Urteil fest. Die Lebensperspektiven in den Her kunftsländern sind noch viel aussichtsloser als das Nothilferegime in der Schweiz. Ihre paradoxe Stär ke besteht darin, dass sie nichts zu verlieren ha ben: «Etwas Besseres als den Tod finden wir über- all.» Die Situation für den schweizerischen Gesetz geber ist komplizierter. Er kann nur auf der Gren ze balancieren, die ihm die Verfassung, Menschen rechte und völkerrechtlichen Verträge setzen. Abschreckende staatliche Massnahmen sind höchst selbstwiderspruchsanfällig. Ohnmächtig ist der Staat nicht gegenüber der Weigerung oder Renitenz abgewiesener Asylsuchender, sondern gegenüber den Grundprinzipien der eigenen Rechtsstaatlichkeit. Die Macht des Rechtsstaats besteht in der Be schränkung seiner Machtbefugnisse. Damit for dert er von sich und seinen Bürgerinnen und Bür G A S T K O M M E N T A R Die Not mit der Nothilfe * Frank Mathwig ist Beauftragter für Theologie und Ethik der Evangelischen Kirchen Schweiz (EKS) und Titularprofessor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern Frank Mathwig © zVg
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