ENSEMBLE Nr. / N° 56 - März / Mars 2021

20 Fokus —– ENSEMBLE 2021 /56 « STERBEN IST WIE EINE GEBURT » PERSPEKTIVEN AM ENDE DES LEBENS wir das Leben viel mehr geniessen und dankbarer sein für das, was wir erleben dürfen. Warum sollen wir keine Angst haben vor dem Tod? Weil diese Angst überhaupt nichts ändert. Auch mit der grössten Angst kannst du vor dem Tod nicht flüchten. Ich glaube, dass Gott, oder die Intelligenz, die alles ins Leben ruft, Liebe ist. Gott ist Liebe, Energie, Licht und Kraft. Wenn du er­ kennst, dass wir Teil dieser Energie sind und sie immer neue Formen annimmt, ist es nicht so schlimm, wenn du deine jetzige Form verlierst. Dieses Erkennen ist nicht so sehr ein intellektuel­ ler Akt. Du kannst durch deine Liebe zur Schöp­ fung und zu allem, was lebt, mit Gott verbunden sein, ohne dass du je von ihm gehört hast. Ist Sterben also etwas Leichtes? Am Schluss stirbst du auf jeden Fall. Das hat bisher noch jeder geschafft. Insofern ist es etwas Leichtes. Aber wenn du ein Kontrollfreak bist, hast du spätestens beim Sterben ein Problem. Gegen­ über dem Tod bist du ohnmächtig. Deshalb haben Sterben und Lieben sehr viel miteinander zu tun. Auch wenn du dich verliebst, dein Herz öffnest und du dich auf einen Menschen einlässt, verlierst du die Kontrolle. Darum macht auch die Liebe Angst. So wie das Sterben. Doch wer hat die Kon­ trolle, wenn nicht ich? Gibt es einen Boden, der mich trägt? Es gibt den schönen Satz: «Man kann nie tiefer fallen als in die Hände von Gott.» Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod? Ich glaube, dass der göttliche Teil in mir weiterlebt. Ich glaube, dieser Teil, den es in jedem Geschöpf gibt, geht nach dem Tod wieder nach Hause, in die allumfassende Liebe, ins Licht. Ge­ füllt mit Erinnerungen, Dankbarkeit für die Erden­ reise und Erfahrungen. Ich finde das ein sehr schö­ nes Bild: dass Gott alles erschafft und in allem drin Seit Corona ist der Tod in unserer Gesell- schaft so präsent wie schon lange nicht mehr. Zeit für ein Gespräch mit Dorothea Murri, Leiterin der Beratungsstelle «Leben und Sterben» von Refbejuso. Von Olivier Schmid Dorothea Murri, zahlreiche Menschen aus der Kirche kritisierten im November die nüchterne Bericht- erstattung über die Opfer von Corona. Täglich werde eine seelenlose Statistik kommuniziert, um die Menschen hinter den Zahlen hingegen bleibe es still. Wie sollen wir ihrer gedenken? Hinter jedem Tod steht ein Schicksal. Wieso soll man der Opfer von Corona besonders gedenken? Ist es schlimmer, an Corona zu sterben als an Krebs? Empathie ist wichtig, und konkret geschilderte Einzelfälle helfen, empathisch zu sein. Aber Empathie verdienen alle Todesopfer – und sie haben mehr davon, wenn sie diese zu spüren bekommen, so­ lange sie noch leben. Ich finde die mangelnde Aufmerksamkeit der Me­ dien den verstorbenen Corona-Op­ fern gegenüber nicht so problema­ tisch. Ich finde es viel schlimmer, dass Angehörige und Freunde von ihren Lieben wegen der Coronamassnahmen nicht angemessen Abschied nehmen können – sei es während ihrer letzten Tage im Krankenbett oder am Grab. Der Tod ist in unserer Gesellschaft ein Tabu. Und viele Menschen befassen sich ein Leben lang nicht mit dem Tod. Seit einigen Jahren sei jedoch ein Kulturwandel zu beobachten, sagt die Kultur­ wissenschaftlerin Corina Caduff. Warum ist Nach- denken und Reden über den Tod wichtig? Weil das Leben dann viel intensiver wird. Wenn dir bewusst ist, dass du stirbst, fragst du dich, was wirklich wichtig ist im Leben. Indem wir wieder lernen, dass Sterben zum Leben gehört und wir dem Tod gegenüber ohnmächtig sind, können «Sterben und Lieben haben sehr viel mitein­ ander zu tun.» Dorothea Murri © zVg

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