ENSEMBLE Nr. / N° 56 - März / Mars 2021

5 ENSEMBLE 2021 /56 —– Doss i er zustimmte – und ein deutliches Zeichen an die abgewiesenen Asylsuchenden sandte: «Ihr müsst jetzt gehen, wirklich!» Aus einer Schreibtischperspektive ist das Vor­ gehen migrationspolitisch durchaus stringent und folgerichtig. Die Durchführung eines Asylverfah­ rens macht nur Sinn, wenn diejenigen, die für nicht schutzbedürftig befunden werden, das Land auch tatsächlich wieder verlassen. Wer nicht frei­ willig ausreisen will oder nicht ausgeschafft wer­ den kann, soll durch möglichst widrige Lebens­ umstände innerhalb von ein paar wenigen Wochen oder höchstens Monaten zur Ausreise bewogen werden. Die Nothilfe sollte den Rück­ kehrpflichtigen während einer kurzen Übergangs­ zeit ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Kein Funken Hoffnung Ob man in der Schweiz mit acht Franken am Tag zumindest über einen kürzeren Zeitraum hinweg ein menschenwürdiges Leben führen kann, sei dahingestellt. Über eine längere Zeit hinweg kann man es jedenfalls nicht. Denn zu einemmenschen­ würdigen Leben gehört mehr, als nicht auf der Strasse zu verhungern. Dazu gehören insbesonde­ re auch soziale Kontakte – und wenn man über Jahre in einem Land lebt, auch andere Formen gesellschaftlicher Teilhabe und Integration. Aber genau das wird den Nothilfebeziehenden verweigert. Sie werden, häufig isoliert von der Schweizer Bevölkerung, in abgelegenen Zentren untergebracht. Mit einem Tagesbudget von acht Franken können sie sich kein Bahn- oder Busbillett leisten, um soziale Kontakte zu pflegen. Es gibt keine Sprachkurse, jegliche Integration soll ver­ mieden werden – damit bloss nicht auch nur ein Funken Hoffnung entsteht, doch in der Schweiz bleiben zu können. Doch warum harren so viele abgewiesene Asyl­ suchende dennoch zum Teil über Jahre in dieser furchtbaren Situation aus, anstatt endlich auszu­ reisen, wie ihnen geheissen wurde? Dies ist eine der kontroverstesten Fragen in der aktuellen migrationspolitischen Diskussion. «Sie könnten ausreisen, aber wollen nicht», sagen die Behörden. «Viele können nicht ausreisen», sagen die Frei­ willigen aus der Kirche und der Zivilgesellschaft, die die betroffenen Menschen persönlich kennen. Aus Vernunft oder Scham Am Beispiel der Eritreerinnen und Eritreer, die einen erheblichen Teil der Langzeitnothilfebe­ ziehenden ausmachen, lässt sich gut aufzeigen, warum sie entgegen der behördlichen Annahmen tatsächlich nicht in ihre Heimat zurückkehren können: Eritrea ist nach wie vor eine brutale Dik­ tatur, mit langjähriger Zwangsarbeit für fast alle, völlig willkürlichen, auch aussergerichtlichen Urteilen, schweren Menschenrechtsverletzungen und fürchterlichen Gefängnissen, zu denen nicht einmal das IKRK Zutritt hat. Der Friedensschluss mit Äthiopien hat daran nichts geändert. Die Kir­ Das Nothilfesystem ist aus kirchlicher Sicht inakzeptabel. Stahlcontainer, kleine Fenster, kaum Privatsphäre: Das Rückkehr­ zentrum in Biel- Bözingen befindet sich direkt neben der Autobahn (Archivbild). Conteneurs en acier, minuscules fenêtres, quasi aucune intimité: le centre de retour de Bienne-Boujean est situé juste à côté de l’autoroute (photo d’archive). ©Keystone / Marcel Bieri

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