ENSEMBLE Nr. / N° 56 - März / Mars 2021

6 Doss i er —– ENSEMBLE 2021 /56 chen haben deshalb mehrmals öffentlich ihr Ver­ ständnis für jene abgewiesenen Asylsuchenden ausgedrückt, die trotz Wegweisungsverfügung nicht nach Eritrea zurückkehren – vernünftiger­ weise reist man nicht in ein Land aus, in dem man lediglich mit «überwiegender Wahrscheinlich­ keit» davon ausgehen kann, dass einem nichts Gravierendes passiert und man nicht verhaftet und gefoltert wird. Wer von uns würde das tun? Auch die Einschätzung der Schweizer Behör­ den, dass für Menschen aus Afghanistan, Irak, Iran oder Äthiopien eine Rückkehr gefahrlos möglich sei, sofern sie nicht individuell verfolgt werden, löst Stirnrunzeln bis Kopfschütteln aus. Bei ande­ ren Herkunftsländern hingegen ist auf den ersten Blick nicht so recht ersichtlich, warum eine Rück­ kehr nicht möglich sein soll. Erst im persönlichen Gespräch wird deutlich, wie unendlich gross die Scham ist, gescheitert und mit leeren Händen in ein armes Land zurückzukehren, wenn die gesam­ te Verwandtschaft ihre Ersparnisse für den Schlep­ per zusammengelegt hat. «Nicht zurückkehren zu können», hat also viele Facetten, mehr oder we­ niger zwingende – und damit auch unterschied­ lich gut legitimierbare Gründe; auch wenn im Gespräch mit den Betroffenen meist gut nachvoll­ ziehbar wird, warum eine freiwillige Rückkehr für sie eine Unmöglichkeit darstellt. Aber wie auch immer man die Gründe für ihr «Nicht-zurückkehren-Können» einschätzen und bewerten mag: Fakt ist, dass in der Schweiz, mit­ ten unter uns, mehrere tausend Personen leben, die wir nicht zwangsweise in ihre Heimat zurück­ schaffen können und die nicht freiwillig ausreisen werden. Das System funktioniert nicht Und damit zurück von der Migrationspolitik zu den Betroffenen. Was passiert mit Menschen, die jahrelang unter den menschenunwürdigen Be­ dingungen des Schweizer Nothilferegimes leben müssen? Viele von ihnen werden krank. Das ist wenig erstaunlich: Würde man psychiatrische Lehrbücher zu Rate ziehen und im Umkehrschluss fragen, wie man zuverlässig Depressionen und bei Kindern schwerwiegende Entwicklungsstörungen hervorrufen könne, gälten Lebensumstände wie in Kollektivunterkünften für abgewiesene Asyl­ suchende wohl als sehr zielführend. Auswege aus der Nothilfe gibt es kaum. Zwar können Betroffene ein sogenanntes Härtefall­ gesuch stellen, doch die Hürden sind hoch: So müssen die Nothilfebeziehenden mindestens fünf Jahre in der Schweiz gelebt haben (alleinstehende Personen sogar zehn Jahre), einige Kantone setzen die Hürden noch höher. Und sie müssen eine fortgeschrittene Integration vorweisen können. Dies steht im Widerspruch zu den staatlichen Be­ mühungen, die Integration von Nothilfebeziehen­ den zu verhindern. Es resultieren viele verlorene Lebensjahre und häufig eine gestohlene Kindheit. Die langfristigen gesellschaftlichen und ökono­ mischen Kosten sind hoch. Das entspricht nicht dem, was man sich 2008 anlässlich der Einführung des Nothilfesystems vor­ gestellt hat. Und auch wenn die ihm zugrunde­ liegenden migrationspolitischen Überlegungen nachvollziehbar sind: Die heutigen realen Aus­ wirkungen sind aus kirchlicher Sicht inakzeptabel. Die Annahme, «dass die Leute dann schon gehen», hat sich nicht bewahrheitet. Wir haben ein System, das schlecht funktioniert und nicht hinnehmbare «Kollateralschäden» mit sich bringt. Ein solches System muss geändert werden. Doch bislang ist bei den nationalen und kan­ tonalen Behörden wenig Einsicht spürbar. «Sie müssen halt gehen», lautet die gebetsmühlenar­ tige Standardantwort, wenn man das Problem an­ spricht. Das reicht nicht. Selbstverständlich haben auch die Kirchen keine Patentlösung – eine gene­ relle «Amnestie» oder eine pauschale Härtefall­ bewilligung nach zwei oder drei Jahren lösen das Problem nicht und schaffen viele neue. Aber es gäbe Lösungsansätze, die viele Probleme situa­ tionsgerecht und länderspezifisch lösen und damit grosses Leid verhindern könnten: Bei einigen Ländern wie etwa Eritrea müssten die Behörden bei ihrer Länderbeurteilung über die Bücher gehen – der Bürgerkrieg in Äthiopien, in den auch Eritrea hineingezogen wird, böte eine exzellente Gelegenheit für eine Neueinschätzung ohne Gesichtsverlust. Zu einem menschen­ würdigen Leben gehört mehr, als nicht auf der Strasse zu verhungern. Acht Franken Nothilfe pro Tag: Zum Überleben genug, zum Leben zu wenig. Huit francs d’aide d’urgence par jour: assez pour survivre, trop peu pour vivre. ©Keystone / Urs Flüeler

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