ENSEMBLE Nr. / N° 57 - April / Avril 2021

27 ENSEMBLE 2021 /57 —– Fokus «MAN LÄSST KEINE KINDER ERFRIEREN » SCHWEIGEN GEGEN HIMMELSCHREIENDES UNRECHT Gesellschaft einfach weg, wird das Unrecht für die Betroffenen noch unerträglicher. Was konnten Sie durch die Mahnwache bis jetzt auslösen? Uta Ungerer: Seit dem Start unserer Aktion ha­ ben viele Menschen dem Bundesrat einen Brief geschrieben und ihn zum Handeln aufgefordert. Und im Januar haben wir eine Kleidersammlung für Geflüchtete initiiert, die in Bosnien festste­ cken. Innerhalb kurzer Zeit kamen sieben Tonnen Kleider zusammen: Wintermäntel, Wollsocken, robuste Schuhe. Barbara Röthlisberger: Viele Kleider waren in sehr guter Qualität. Teilweise haben die Menschen sie sogar neu gekauft oder selbst gestrickt. Uta Ungerer: Viele Menschen haben mit an­ gepackt. Was in unserer Gruppe gewachsen ist, hat in unseren persönlichen Netzwerken eine grosse Kraft entwickelt. Die Mahnwache dauert bereits über ein halbes Jahr. Wie lange führen Sie sie noch weiter? Uta Ungerer: Die Problematik ist ja nicht ge­ löst. Die Mahnwache ist darum erst der Anfang. Die zeitliche Dimension spielt dabei eine wesent­ liche Rolle: Viele Menschen bemerken uns viel­ leicht ein erstes Mal beim Vorübergehen. Wenn sie uns zwei Wochen später erneut sehen, fragen sie sich womöglich: Was haben sie eigentlich für ein Anliegen, wofür stehen sie ein? Erleben Sie auch negative Reaktionen? Uta Ungerer: Eigentlich kaum. Aber was für mich schlimm war: Wir forderten im Hinblick auf den Winter bereits im September die Evakuierung der Flüchtlingslager. Irgendwann war der Winter da. Und wir standen noch immer jede Woche auf der Brücke. Da merkte ich, dass wir die geflüchte­ ten Menschen in Griechenland nicht vor der eisi­ gen Kälte in den durchnässten Zelten bewahren können. Das tat weh. Woche für Woche machen in Thun Menschen aus der Kirche auf die prekäre Lage der geflüchteten Menschen in Griechenland auf- merksam. So auch Pfarrerin Uta Ungerer und die pensionierte Lehrerin Barbara Röthlis- berger. Warum die Mahnwache mehr ist als ein stilles Zeichen der Anteilnahme. Von Selina Leu* Seit September stehen Sie jede Woche mit Trans- parenten und Kerzen schweigend auf einer Brücke in Thun. Wie entstand die Mahnwache? Uta Ungerer: Im ersten Lockdown haben wir eine digitale Gebetsgruppe gebildet. Als im Sep­ tember das Flüchtlingslager Moria abbrannte, war für uns schnell klar, dass wir mehr tun wollten als beten. Mit der Mahnwache wollten wir uns inner­ lich mit den Menschen in den Lagern verbinden, aber auch die Bevölkerung auf die Thematik auf­ merksam machen. Heute sind wir eine Gruppe von rund 20 Menschen zwischen 14 und 76 Jahren. Mit einer Mahnwache allein ist den Betroffenen aber noch kaum geholfen. Barbara Röthlisberger: Einerseits gibt es die spirituelle Dimension. Andererseits beginnt jede Tat mit der eigenen Haltung. Also ist es wichtig, dass die Gesellschaft die unhaltbare Situation in den griechischen Flüchtlingslagern wahrnimmt. Erst wenn wir uns bewusst sind, was an den EU- Aussengrenzen geschieht, können wir beginnen zu handeln. Uta Ungerer: Die Mahnwache ist etwas Kleines, Leises. Sie steht aber auch für eine Veränderung, die passieren kann, wenn Mitglieder der Gesell­ schaft für etwas hinstehen, was für die Politik nicht denkbar ist. Wenn jemandem Unrecht ge­ schieht, muss das benannt werden. Schaut die * Mitarbeiterin der Fachstelle Migration der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn

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