ENSEMBLE Nr. / N° 57 - April / Avril 2021

28 Fokus —– ENSEMBLE 2021 /57 Barbara Röthlisberger: Unser ganzes Leben ist politisch. Was wir essen, wo wir einkaufen, alles ist ein Statement und hat konkrete Auswirkungen. Wenn die Kirche Leben bedeutet, bedeutet sie auch Politik. Gerade in den Bereichen Umwelt, Soziales und Schöpfung muss sie sich einbringen und Rück­ grat zeigen, auch wenn sie deswegen in Kritik gerät. Uta Ungerer: Angst vor Kritik verhindert zu handeln. Zu kritisieren, dass Menschen in Europa im Schnee und in der Nässe ausharren müssen, ist keine Frage der politischen Haltung, sondern eine der Menschlichkeit. Man lässt keine Menschen er­ frieren. Keine Frauen, keine Männer, keine Kinder. Punkt. Es gibt keinen einzigen Grund, der dieses Handeln beziehungsweise Nicht-Handeln recht­ fertigt. Barbara Röthlisberger: Ich frage mich in sol­ chen Situationen jeweils, was Jesus getan hätte. Er hätte sich für die Bedürftigsten unter uns ein­ gesetzt, auch wenn nicht alle damit einverstanden gewesen wären. Sie fordern die Evakuierung der griechischen Flüchtlingslager ... Barbara Röthlisberger: Ja, das ist ein erster Schritt, aber es geht um viel mehr. Die Evakuie­ rung der Flüchtlingslager wäre eine konkrete ers­ te Handlung. Schliesslich müssen wir aber auch anerkennen, dass das Schicksal der Menschen auf der Flucht etwas mit unserem Lebensstandard zu tun hat. Wir exportieren beispielsweise Waffen und kaufen Kleider aus Billiglohnländern. Gibt es einen Schlüsselmoment, der Sie in der Flüchtlingsfrage quasi «politisiert» hat? Barbara Röthlisberger: Ich war vor meiner Pen­ sionierung Lehrerin. Während des Balkankriegs hatte ich ein geflüchtetes Kind in meiner Klasse und fragte mich jeden Tag aufs Neue: Kommt es in die Schule oder haben die Behörden die Familie ausgeschafft? Diese ständige Unsicherheit war für das Kind und seine Familie extrem belastend. Da realisierte ich, wie die Schweiz teilweise mit Men­ schen umgeht. Uta Ungerer: Ich möchte anstelle von mir et­ was über die Motivation unserer Gruppe erzäh­ len. Eine ältere Teilnehmerin schämte sich sehr dafür, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs so viele deutsche Juden an den Gren­ zen abgewiesen hat. Für sie ist die Mahnwache ein kleines, aber wichtiges Zeichen dafür, dass die Schweiz heute nicht einfach wegschaut, wenn verfolgte Menschen Hilfe suchen. Für an­ dere in der Gruppe ist es zentral, nicht zu ver­ stummen angesichts dieser unbegreiflichen Men­ schenrechtsverletzungen, sondern hinzustehen und das Unrecht sichtbar zu machen, Woche für Woche von Neuem. Und vielen in der Gruppe ist es wichtig, dass unser Blick weit bleibt und wir uns nicht nur um uns selber drehen, gerade jetzt während Corona. Ihre Forderungen an den Bund sind durchaus poli- tisch. Ernten Sie als Vertreterinnen der Kirche hier- für auch Kritik? Schweigen – und auf das Unrecht aufmerksam machen: Mahn­ wache in Thun. Se taire – et attirer l’attention sur l’in- justice: commémo- ration à Thoune. ©Heinz Bichsel

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