ENSEMBLE Nr. / N° 59 - Juni / Juin 2021

21 ENSEMBLE 2021 /59 —– Doss i er sie zudem in eine Selbsthilfegruppe. «Dann wurde er inkontinent. Ich musste ihn auf die Toilette be­ gleiten und habe ihm Einlagen gekauft.» Trotzdem war Emma nie verbittert. «Ich habe miterlebt, wie es bergab ging: als er nicht mehr schreiben konnte, als er begann viel zu schlafen, als er apathisch wurde. Das war für mich schwierig.» 2019 wurde Arnaud gegen ihren Willen in einem gerontopsy­ chiatrischen Zentrum untergebracht. Ein Jahr zuvor hatte Emma einen Herzinfarkt erlitten. Für die Ärzte war die Belastung für sie zu gross. Eine schwierige Phase für das Paar, das vierzig Jahre lang zusammengelebt hatte. Heute besucht die Siebzigjährige ihren Lebensgefährten zwei- bis dreimal pro Woche. Er spricht nicht mehr, erkennt sie aber noch, wahrscheinlich an der Stimme. «Er ist immer lieb und man sagt mir, dass ihm meine Besuche guttun.» 2020 überlebte er das Coronavi­ rus, während mehr als die Hälfte der Heimbewoh­ ner dem Virus erlag. Neulich hat Emma die Kolum­ nen ihres Partners zusammengetragen. Soeben hat sie von einem Verlag eine positive Antwort erhal­ ten. Sie glaubt, dass Arnaud verstanden hat, dass sein Buch veröffentlicht wird. In der Wohnung ist der Schreibtisch des ehemaligen Journalisten leer, aber ansonsten ist sein Arbeitszimmer mit seinen Büchern und Sachen unberührt. «Er ist nicht tot, aber manchmal scheint es, als ob er es sei.» Eine zweifache Krankheit Seit einiger Zeit befindet sich auch Aline* auf dem schwierigen Weg, einen geliebten Menschen mit Demenz zu begleiten. Jahrelang trank ihr Mann Paul* Alkohol. Aber betrunken hat er sich nie. Bei seiner Arbeit in einer Druckerei wurde er für seine organisatorischen und intellektuellen Fähigkeiten und seinen Humor sehr geschätzt. «Ich bemerkte nicht gleich, dass er zu viel trank. Nach seiner Frühpensionierung mit 63 Jahren begann er heim­ lich harten Alkohol zu konsumieren. Er verfiel dem Alkoholismus und wurde verbal aggressiv.» Nach einem Rollerunfall überzeugte ihn Aline, sich Hil­ fe zu suchen, um seinen Konsum zu reduzieren. Das Universitätsspital in Lausanne stellte bei Paul Gedächtnisprobleme fest und überwies ihn an das «Centre de la mémoire», wo ihm Alzheimer diag­ nostiziert wurde. «Ich dachte, dass mir der Himmel auf den Kopf fällt», erinnert sich Aline. Heute ist Paul 75 Jahre alt und darf noch immer Auto fahren. Er ist in der Lage, in lokale Geschäfte zu gehen, hat aber Schwierigkeiten, sich ohne Aline zurechtzufinden. Zudem muss sie immer wieder die gleichen Informationen wiederholen, und er hat die Tendenz, Dinge zu verlegen, so dass Aline seine Sachen nicht mehr finden kann. «Er macht aber noch immer Frühstück und kocht Eier. Er hilft mir auch den Wäschekorb zu tragen oder bei der Abfallentsorgung. Die restliche Zeit spielt Leitfaden für Angehörige Das Begleiten eines Menschen mit Demenz kann bei Angehörigen verschiedene Fragen aufwerfen. Der Leitfaden «Lebensende mit De­ menz» vermittelt ihnen mögliche Antworten und Anregungen. In zehn Heften werden ver­ schiedene Themen aufgegriffen und jeweils aus drei Perspektiven beleuchtet: aus der Sicht von Angehörigen, von Fachpersonen und von For­ schenden. Stefanie Eicher, Heike Geschwindner, Henrike Wolf, Florian Riese (Hrsg.): Lebensende mit Demenz. Ein Leitfaden für Angehörige. Zürich: Universität Zürich, Zentrum für Gerontologie (2018). Bestellung und Download: www.zfg.uzh.ch er Computerspiele, immer die gleichen.» Ihre Be­ ziehung hat unter der Krankheit gelitten. Ein Aus­ tausch über Alltägliches ist nach wie vor möglich, zum Beispiel über TV-Nachrichten. Ansonsten hält sich der Austausch jedoch in Grenzen. Der fehlen­ de Dialog schmerzt Aline. «Es ist eine Einsamkeit zu zweit.» Um Hilfe bitten Durch Pauls Krankheit hat sich ihre Liebe in eine respektvolle und brüderliche Freundschaft ver­ wandelt. Aline nabelte sich ab, um sich vor ihm zu schützen, der unausstehlich und verbal ver­ letzend wurde, wenn er trank. «Aber ich ertrage es und kümmere mich um ihn.» Sie schloss sich einer Gesprächsgruppe für Angehörige von De­ menzbetroffenen an. Der Besuch einer Al-Anon- Familiengruppe für Angehörige von Alkoholikern half ihr ebenfalls, mit seinen Frustrationen und seinem Ärger umzugehen. Obwohl die Naturheil­ praktikerin früher Krankenpflegerin gewesen war, suchte sie Hilfe. Einmal in der Woche kommt nun eine Krankenpflegerin vorbei, um nach ihrem Mann zu sehen. Doch Aline ist erschöpft und war­ tet, bis ein Platz in einer Tagesklinik frei wird, wo ihr Mann einmal in der Woche hingehen kann. Ihr sehnlichster Wunsch: für ein paar Tage in ein Hotel zu fahren, um sich zu entspannen. Das Le­ ben hat sie wahrlich nicht verschont. Auch sie hatte bereits mit schwerwiegenden gesundheit­ lichen Problemen zu kämpfen. Und letzten August starb ihr Sohn an einem Gehirntumor. Zudem pla­ gen Aline Zukunftssorgen, vor allem in finanziel­ ler Hinsicht. Ihr Mann hat die gesamten Haushalts­ ersparnisse vertrunken, und seine Platzierung in einer Pflegeeinrichtung wird die Situation nicht verbessern. «Aber ich habe gelernt, einen Tag nach dem anderen zu leben.»

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