ENSEMBLE Nr. / N° 59 - Juni / Juin 2021

23 ENSEMBLE 2021 /59 —– Doss i er Hasen, den sie in die Küche gebracht hat, zurück in den Sinnesgarten begleiten und ihr beim Füt­ tern helfen. Im Korridor kreuzt die Journalistin einen Mann im Rollstuhl an einem Physio-Velo; sie unterhält sich mit einer Frau mit rot lackierten Finger­ nägeln, die auf dem Sofa vor dem Stationsbüro sitzt, über ihr schmerzendes Knie klagt und von einer Pflegerin ein Coldpack erhält; in einer Sin­ nesoase berührt sie der Anblick einer Frau, die in Embryostellung mit Kopfhörer völlig ruhig auf dem Wasserbett liegt; sie kommt einen Moment zu spät, um einem Mann beim Musikhören im Ohr­ sessel mit den eingebauten Lautsprechern zu­ sehen zu können, der soeben aufsteht – und in der gut besuchten Gemeinschaftsküche bestätigt ihr eine Pflegehelferin strahlend: Ja klar, das Lackie­ ren der Fingernägel gehöre dazu, jede Frau wähle die Farbe selber aus. Glücksgefühle und schöne Momente Remo Stücker verweist beim Rundgang durch die Sinnesoasen in den Wohnbereichen auf die viel­ seitig verbaute Technik. Die Anlagen erzeugen mit wechselnden Bildern, passenden Lichtverhältnis­ sen und Musik unterschiedliche Stimmungen. Diese ermöglichen den Bewohnenden audio­ visuelle Erlebnisse, die dank Biografiearbeit auf sie persönlich abgestimmt werden können. Stü­ cker betont, meist würden Pflegende, Freiwillige oder Angehörige die Bewohnenden in die Sinnes­ oasen begleiten und dort mit ihnen verweilen. Aktivierungsfachleute bieten das Thermospabad und das emotionale Erlebnisbad an, auch hier mit vielen audiovisuellen Möglichkeiten, Licht und Düften. Ziel all dieser Angebote ist es, so Stücker, demenzkranken Frauen und Männern emotionale Erlebnisse und Glücksgefühle zu ermöglichen, «ihnen schöne Momente zu geben». wohner dringend nach Hau­ se wollen. Die von Nico Meier aufgebaute Fachstelle Incanto schult Pflegeteams für die Anwendung persona­ lisierter Musik und zertifi­ ziert Heime in der Deutsch­ schweiz. Gefühle und Emotionen als Ressourcen Wenn der Verstand schwin­ det, nehmen der Wunsch nach emotionalem Erleben und die emotionalen Be­ dürfnisse zu: Diesem Grund­ satz folgte Domicil Bern bei der Renovation des über 30-jährigen Pflegeheims 2012. «Wir sind sehr begeisterungsfähig. Wir pro­ bieren vieles aus», sagt Pflegedienstleiter Stücker. Heute profiliert sich das Domicil Kompetenzzen­ trum Demenz Bethlehemacker als «Haus der Emo­ tionen». Hier leben Frauen und Männer, die an einer mittleren oder schweren Demenz erkrankt sind. Stücker erklärt: Diese Personen können nicht mehr auf ihr Kurzzeitgedächtnis vertrauen und selbstständig einer Tagesstruktur folgen, bei der zeitlichen und örtlichen Orientierung sind sie auf Unterstützung angewiesen, ebenso bei den Mahl­ zeiten, bei der Körperpflege und -hygiene. Gleich­ zeitig verfügt jede Person über Emotionen und Gefühle, die von der Krankheit kaum betroffen sind. «Gefühle und Emotionen sind Ressourcen, die es Erkrankten ermöglichen, zu handeln, sich zu bewegen und etwas zu erleben.» Freundinnen seit der Kindheit «Die Pflege und Betreuung von Menschen mit De­ menz braucht Raum und emotionale Angebots- Felder, in denen das emotionale Erleben umge­ setzt werden kann», heisst es im Leitfaden zum «Haus der Emotionen». Auf einem Streifzug durch das Heim zeigt Stücker der Journalistin, wie das geschieht. Dabei erhält sie eine Ahnung davon, wie komplex dieser Heimorganismus geplant ist. Und wie vielfältig die Frauen und Männer sind, die hier leben und arbeiten. Sie begegnet zum Bei­ spiel drei Frauen, die, einander an den Händen haltend, aus der Gemeinschaftsküche hinaus und durch den breiten Korridor laufen. Sie sind guter Laune, unterhalten sich, lachen – und verschwin­ den um die Ecke. Nach einer Weile spazieren sie zurück in die Küche und setzen sich in der gleichen Sitzordnung wie zuvor an den Tisch. Sie haben sich im Heim kennengelernt, doch sie hal­ ten sich für Freundinnen seit der Kindheit. Später werden sie die Aktivierungstherapeutin und den Eine Zugfahrt ins Blaue: Sinnes­ oasen ermöglichen den Bewohnerin- nen und den An- gehörigen audio­ visuelle Erlebnisse, die auf sie persön- lich abgestimmt sind. Un voyage en train dans le bleu: des oasis sensorielles permettent aux résidents et aux proches de vivre des expériences audiovisuelles qui leur sont personnellement adaptées. © zVg

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