ENSEMBLE Nr. / N° 60 - Juli / Juillet 2021

4 Doss i er —– ENSEMBLE 2021 /60 ANVERTRAUTE TALENTE MIT KIRCHENRÄUMEN WIRTSCHAFTEN LES TALENTS CONFIÉS METTRE À PROFIT LES ESPACES ECCLÉSIAUX In Kirchenkreisen hört man oft den Spruch «Wir investieren in Menschen, nicht in Mauern». Diese Schwerpunktsetzung ist theologisch korrekt. Gleichwohl stellen unsere Kirchengebäude ein einzigartiges symbolisches Kapital dar. Mit ihm zu arbeiten, ist eine grosse Chance. Von Johannes Stückelberger Für Jesus, den Wanderprediger, sind Kirchenbau­ ten kein Thema. Auch nicht für die frühen Chris­ tinnen und Christen, die sich in Privathäusern versammelten. Erst als das Christentum Staats­ religion wird, beginnen die Gemeinden Kirchen zu bauen: als Symbole gelebter Gemeinschaft, als Repräsentationsbauten, als für die Ewigkeit er­ richtete Burgen. Und nun haben wir sie, diese Steine. Allein die Gemeinden der Reformierten Kirchen Bern-Jura- Solothurn besitzen 305 Kirchengebäude. Eine rie­ sige Hypothek, die die Budgets der Kirchgemein­ den empfindlich belastet. Finanzierung, Sanierung und energetische Optimierung sind nicht die be­ liebtesten Themen an Kirchgemeinderatssitzun­ gen. Doch keine Angst. Das vorliegende Dossier hat einen anderen Schwerpunkt. Es richtet den Blick auf das symbolische Kapital, das unsere Kir­ chengebäude darstellen. Es will dazu ermutigen, dieses Kapital nicht primär als Last zu sehen, son­ dern als Chance und Verpflichtung. So wie der König im Gleichnis von den anvertrauten Talenten von seinen Dienern erwartet, dass sie mit dem Geld arbeiten (Mt 25, 14-30), so sind wir eingela­ den, mit den uns anvertrauten Kirchengebäuden zu wirtschaften. Die folgenden, an der Praxis orientierten Ideen zur Bewirtschaftung der Kirchengebäude entspre­ chen den vier Schwerpunkten des Autors im Rahmen seiner Tätigkeit als Fachbeauftragter für Kirchenbau und gastfreundliche Kirche bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn: Wahr- nehmen, nutzen, gestalten und öffnen. Wahrnehmen Wer mit dem Kapital Kirchenraum wirtschaften will, muss dieses Kapital kennen. Jede Kirche hat ihre eigene Geschichte, die sich aus vielen Ge­ schichten zusammensetzt. Da ist zum Beispiel die Geschichte ihrer Erbauerinnen und Erbauer. Sie fassten den Entschluss, eine eigene Kirche zu be­ sitzen. Sie wählten dafür einen Standort. Sie gaben vor, wie sie aussehen soll. Sie achteten darauf, dass die Gestalt des Baus und seine innere Organisation ihrem theologischen und ekklesiologischen Selbstverständnis entsprachen. Und sie entschie­ den, ob es in der Kirche Bilder haben darf und, wenn ja, welche. Ebenfalls Teil der Geschichte einer Kirche ist die Geschichte ihrer Nutzerinnen und Nutzer. Könnten die Mauern sprechen, würden sie uns erzählen, wie viele Leute in der Kirche getauft, konfirmiert, verheiratet und beerdigt wurden. Wer gelacht hat und wer geweint hat. Für welche Ver­ gehen das Chorgericht, die kirchliche Gerichts­ barkeit, Kirchenmitglieder verurteilte. Welche sonstigen besonderen Ereignisse es gab. Kirchen sind gewaltige Gedächtnisspeicher des sozialen Lebens. Auf den mit ihnen verbundenen Erinne­ rungen basiert ein Teil der kulturellen Identität eines Dorfes oder einer Stadt. Viel zu erzählen gibt es auch über die unter­ schiedlichen Funktionen der Kirchen: als Haus Gottes, als Haus der Gemeinde, als heiliger Ort, als Schutzort sowie als liturgischer und diakoni­ Den Kirchen kommt eine Bedeutung zu, auch wenn darin nichts stattfindet.

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