ENSEMBLE Nr. / N° 61 - September / Septembre 2021

10 Doss i er —– ENSEMBLE 2021 /6 1 sowohl kompatibel mit der historisch-kritischen Methode als auch mit neueren bibelwissenschaft­ lichen Erkenntnissen sind. Gibt es andere Aspekte, die auf eurem gemein­ samen Weg wichtig waren? Matthias Zeindler: In unserer gemeinsamen Erklärung weisen wir darauf hin, dass es für unse­ re Vertrauensbasis ausschlaggebend war, anzu­ erkennen, dass wir alle um das richtige Verständ­ nis der Bibel ringen – auch wenn wir zu anderen Schlüssen kommen. Thomas Gerber: Für mich war ein wichtiger Aspekt auf dem gemeinsamen Weg, dass Einheit nur möglich ist, wenn das Zentrum Jesus Christus ist. Dann verlieren andere Dinge an Gewicht. Das hat uns dabei geholfen, auf Verurteilungen zu ver­ zichten. Walter Dürr: Was im Papier keinen Nieder­ schlag gefunden hat, uns aber auch wichtig ge­ wesen wäre, ist die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat. Wie leben wir den Glauben, wenn sich die gesellschaftlichen Plausibilitäts­ strukturen so verschieben, dass er in der Gesell­ schaft keine Rolle mehr spielt? Nimmt die Kirche ihre prophetische und gesellschaftskritische Rol­ le wahr, auch wenn diese unpopulär ist? Bei wel­ chen gesellschaftlichen Entwicklungen macht die Kirche mit und bei welchen nicht? Thomas Gerber: Ich habe mich auch immer wieder gefragt, ob die Kirche ihr Wächteramt nicht stärker wahrnehmen sollte. Gerade bei Fra­ gen der Lebensethik hätte sie ein mächtiges Wort mitzureden. Matthias Zeindler: Für mich ist es eine zent­ rale Frage, wann gesellschaftliche Entwicklungen in der Kirche wichtige Lernprozesse anstossen und wann die Kirche bloss einen Mentalitätswandel nachvollzieht. Eine Oppositionsrolle ist für mich nicht per se erstrebenswert. Ich habe kein Problem damit, wenn die Kirche von der Gesellschaft lernt. Welchen Stellenwert hat die gemeinsame Erklä- rung für eure Gemeinschaften? Thomas Gerber: Unter unseren Pfarrpersonen herrscht zum Thema Kirchliche Trauung für alle mehrheitlich Konsens, einige vermissten darum eine klarere Stellungnahme des EGW. Für uns liegt der übergeordnete Wert der Erklärung jedoch darin, dass es ein Musterbeispiel für den Umgang mit kontroversen Fragen ist. Walter Dürr: Auch wir haben Zuschriften er­ halten von Leuten, welche die inhaltliche Schärfe vermissen – was ja aber bewusst nicht unser Ziel war. Matthias Zeindler: Bei Refbejuso wird die ge­ meinsame Erklärung rund um die Gesprächssyn­ ode im Oktober und nächstes Jahr, wenn die Syn­ Thomas Gerber: Für mich gab es drei wichtige Schritte: erstens die Verabschiedung von der Idee und der Hoffnung, einen inhaltlich konsensorien­ tierten Standpunkt zu finden; zweitens der Ent­ scheid, eine gemeinsame Erklärung zum Umgang mit Uneinigkeiten in Erkenntnisfragen zu erarbei­ ten und so einen Weg zu finden, dennoch mitei­ nander unterwegs zu sein; und drittens die Er­ kenntnis, dass wir trotz inhaltlicher Differenzen nach jeder Sitzung geschwisterlich auseinander­ gehen konnten. Walter Dürr: Das Resultat brachte dann weni­ ger eine eindeutige Position zum Ausdruck, son­ dern öffnete vielmehr zwischen den zwei Polen einen Raum, in dem wir über das Thema diskutie­ ren konnten. Vielleicht ist dies die einzige frucht­ bare Art, mit bleibenden Spannungen umzugehen. Matthias Zeindler: Wir stellten zudem fest, dass es nicht zwei klare Fronten gibt, auf der einen Seite die Gemeinschaften und auf der anderen Seite die Landeskirche. Auch innerhalb der Ge­ meinschaften werden unterschiedliche Positionen vertreten. Zudem sass eine Gemeinschaft am Tisch, die das Positionspapier am Ende nicht unterschrei­ ben konnte. Dennoch nahm sie bis zum Schluss an den Gesprächen teil. Wie ist der vorliegende Text entstanden? Walter Dürr: Wir haben mit Matthias Zeindler einen begnadeten Schreiber unter uns. Er fand For­ mulierungen, die allen Positionen gerecht wurden. Matthias Zeindler: Man kann einen Text ja nicht in der Gruppe schreiben. Aber wir haben buchstäblich jedes Wort diskutiert, so dass am Schluss alle dahinterstehen konnten. Walter Dürr: Dies war ein Kernstück unseres Ringens und gleichzeitig eine sehr positive Erfah­ rung: dass es möglich ist, trotz unterschiedlicher Zugänge zur Bibel Formulierungen zu finden, die unser Schriftverständnis zusammenfassen und die Matthias Zeindler: «Wenn die Kirche keine Einheit ist, verspielt sie ihre Glaubwürdigkeit und Überzeu- gungskraft.» Matthias Zeindler: «Si l’Eglise n’est pas unie, elle perd sa crédibilité et sa force de persuasion.» © Adrian Hauser

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