ENSEMBLE Nr. / N° 61 - September / Septembre 2021

19 ENSEMBLE 2021 /6 1 —– Doss i er immer auf der Lauer, ob dieser Jesus wieder etwas Verbotenes tut. Und Jesus tat etwas, das mich bis heute beeindruckt: Er gab sich immer mit den Menschen ab, die gesellschaftlich und religiös ge­ sehen verachtet oder einfach als unwichtig be­ trachtet wurden: Beeinträchtigte, Zöllnerinnen, Prostituierte, unfähige Fischer et cetera. Und er gab sich nicht nur mit ihnen ab, sondern er glaub­ te an sie und gab ihnen Raum, sich zu entfalten. Er sagte: «Wenn ihr Glauben habt wie ein Senf­ korn, dann könnt ihr Berge versetzen.» (Mt 17,20) Er sagte Dinge wie «Der Sabbat ist für den Men­ schen da und nicht der Mensch für den Sabbat» (Mk 2,27) und brach damit das damals wichtigste Gebot der neutestamentlichen Juden. Wenn ich zurückschaue auf die letzten 2000 Jahre Kirchengeschichte, dann schäme ich mich manchmal und möchte immer wieder weinen – weinen, weil ich sehe, wie Christinnen und Chris­ ten bis heute mit- und teilweise hauptverantwort­ lich sind für so viel Leid, das gleichgeschlechtlich Liebende erlebt haben und noch immer erleben – wegen drei (oder je nach Lesart maximal fünf) von insgesamt 32 000 bis 34 000 Versen in der Bibel (je nach Übersetzung). Mit einer Handvoll Versen be­ gründen wir, dass wir im Laufe der Geschichte Tausende Menschen gedemütigt, zwangssterili­ siert und umgebracht haben. In gewissen Teilen der Welt geschieht das leider noch heute, und auch in der Schweiz ist die Suizidrate von homo­ sexuellen Jugendlichen mehr als fünfmal höher als diejenige von heterosexuellen; bei Transmen­ schen sogar um ein Vielfaches mehr. Gott liebt alle Menschen In meiner Arbeit als Pfarrerin und Seelsorgerin begegnen mir fast wöchentlich Menschen, die Angst haben, sich als homosexuell zu outen: Sie haben Angst davor, alles zu verlieren – ihre Fami­ lien, Freundinnen und Freunde, ihren Beruf. Sie haben Angst, vor dem kompletten Aus zu stehen, und gleichzeitig haben sie Angst, vielleicht nie wirklich zu sich selbst stehen zu können. Leider haben Christinnen und Christen bei dieser Ableh­ nung häufig lange vorne mitgemischt. Was man 2000 Jahre lang von allen Bergen und Kanzeln gerufen hat, hallt noch immer nach – so verwundert es auch nicht, dass viele queere Men­ schen bis heute der Kirche und den Christinnen und Christen misstrauen. Das ist ihnen gegenüber nicht einmal böse gemeint, sondern häufig ein Schutz vor erneuter Verletzung und De­ mütigung. Unsere Aufgabe wäre es darum, uns schützend vor queere Menschen hinzu­ stellen, sie (wie alle anderen Menschen auch) zu lieben, für sie da zu sein und sie zu ermu­ tigen, sich selbst zu sein. Ich tue dies mit viel Hingabe – und ich weiss, dass ich nicht die Erste bin und sicherlich auch nicht die Letzte. Aber darum geht es nicht – es geht nicht darum, dass sich eine Person hinstellt und etwas sagt, son­ dern es geht darum, dass wir alle zusammen hinstehen und sagen: Ja, wir glauben, dass Gott wirklich alle Men­ schen liebt – ganz losgelöst von deren Geschlecht, Aussehen, Herkunft oder sexuellen Orientierung. Und wenn Sie jetzt sagen, das tun wir ja schon lange, sage ich «Chapeau» und danke! Und das meine ich absolut ernst. Danke für Ihre Arbeit, für Ihr Wirken und Ihre Liebe. Machen Sie weiter so und sprechen Sie noch mehr darüber – machen wir bekannt: Wir in der evangelisch-reformierten Kirche sind für alle Menschen da. Punkt. «Geht nun hin und macht zu Jüngerinnen und Jüngern alle Menschen dieser Welt» – alle, auch die nicht heterosexuellen, denn auch sie sind willkommen – «und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende». (Mt 28,20) Genau das wünsche ich uns, dass wir uns in der Kirche immer wieder auf unseren Kernauftrag fokussieren können und dass alle Glieder unseres Leibes bedingungslos angenommen werden – und dies von uns auch zugesprochen bekommen. Christliche Anlaufstellen − Adamim – Zusammenschluss schwuler Seelsorger: www.adamim.ch − COOL – Christliche Organisation von Lesben: www.cool-schweiz.ch − Lesbisch-Schwule Basiskirche Basel: www.lsbk.ch − Zwischenraum – Organisation homosexueller Christinnen und Christen: www.zwischenraum-schweiz.ch Unsere Aufgabe ist es, uns schützend vor queere Menschen hinzustellen. Mir begegnen fast wöchentlich Menschen, die Angst haben, sich als homosexuell zu outen. Priscilla Schwendimann © zVg

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