ENSEMBLE Nr. / N° 62 - Oktober / Octobre 2021

22 Fokus —– ENSEMBLE 2021 /62 F L Ü C H T L I N G S P A R L A M E N T «Mit ihnen» statt «über sie» reden Im Juni fand unter Mitwirkung der Fachstelle Migration der Reformierten Kirchen Bern- Jura-Solothurn das erste Schweizer Flüchtlings- parlament statt. Das Resultat: ein Strauss kon- kreter Forderungen von der Basis an die Politik. Von Selina Leu Es gibt in der Schweiz ein Frauenparlament und ein Jugendparlament. Aber ein Flüchtlingsparla­ ment gab es bisher nicht. Dabei gäbe es genügend Themenbereiche, in welchen aus Sicht geflüchte­ ter Menschen Handlungsbedarf bestünde. Erst­ mals organisierten sie sich unter Mitwirkung di­ verser Fachorganisationen, um mit geeinter Stimme aufzutreten: «Meist reden andere über uns. Ziel des Flüchtlingsparlaments war, dass wir uns endlich selbst äussern», sagt Mitorganisatorin Mahtab Aziztaemeh. «Wir diskutierten gemein­ sam, welche Hürden wir meistern müssen – und welche Lösungsansätze wir sehen.» Vom Frühjahr bis Sommer trafen sich 75 Ge­ flüchtete aus 15 Ländern in insgesamt neun Kom­ missionen, um konkrete Forderungen an die Poli­ tik zu erarbeiten. Koordiniert wurde das Ganze durch das «Brückenbauer-Institut» NCBI. Diverse Fachorganisationen, unter anderem UNHCR Schweiz, die Schweizerische Flüchtlingshilfe wie auch die Fachstelle Migration von Refbejuso, unterstützen den Prozess. «Es war grossartig», sagt die Iranerin Mahtab Aziztaemeh. «Die Teilnehme­ rinnen und Teilnehmer haben sich motiviert und mit viel Hoffnung in die Vorbereitungsarbeit ein­ gebracht.» Nach vier digitalen Sitzungen in jeder Kommission, unter Einbezug von Fachpersonen aus Politik und Beratung, lagen insgesamt dreissig Vorschläge auf dem Tisch. Im Juni trafen sich die Mitwirkenden dann in der Pfarrei Dreifaltigkeit in Bern, um die Ideen zu priorisieren und als Forde­ rungen an die Politik zu verabschieden. «Es war äusserst schwierig, die Forderungen gegeneinan­ der abzuwägen,» erinnert sich Mahtab Aziztae­ meh. «Hinter jedem Vorschlag stecken Erfahrun­ gen von Menschen, weshalb eigentlich jede einzelne Forderung legitim ist.» Der Schmerz der Trennung Die Essenz aus dem Prozess – zehn finale Forde­ rungen – stellten die Kommissionsmitglieder an­ schliessend einem halben Dutzend nationalen Parlamentsmitgliedern vor. Viele der Forderungen drehen sich um das Thema Familie oder Bildung. So wünschen sich die Teilnehmenden des Flücht­ lingsparlaments etwa, dass vorläufig Aufgenom­ menen das Reisen innerhalb des Schengenraums erlaubt wird, um ihre Familienmitglieder besu­ chen zu können. Heute ist dies nur in Ausnahme­ fällen und auf Gesuch bei den Behörden hin mög­ lich, wenn beispielsweise ein Familienmitglied schwer krank ist oder im Sterben liegt. Es stelle eine grosse Belastung dar, wenn man wisse, dass sich die Familie unmittelbar im Nachbarland auf­ hält, aber ein Besuch unmöglich sei, schreibt das Organisationskomitee in der Abschlussdokumen­ tation: «Es gibt keinen Grund, Leute mit F-Status in einem geografischen Gefängnis zu halten.» Ein solches Reiseverbot verstosse zudem gegen die Menschenrechtskonvention wie auch gegen die Bundesverfassung, die jedem Menschen das Recht auf «persönliche Freiheit, insbesondere auf körper­ liche und geistige Unversehrtheit und auf Bewe­ gungsfreiheit» zugesteht. Zudem plädieren die Mitwirkenden des Flücht­ lingsparlaments dafür, die Definition der Familie beim Familiennachzug zu erweitern. In vielen Herkunftsländern von Geflüchteten leben oft meh­ rere Generationen unter einem Dach. Wenn nun eine Person, meistens die Stärkste mit den gröss­ ten Überlebenschancen, die Familie verlässt, habe dies negative Auswirkungen auf die zurückblei­ benden Familienmitglieder – soziale, psychische wie auch finanzielle. Die Geflüchteten fordern deshalb, «dass nicht nur Kinder und Ehepartner, sondern auch abhängige und besonders vulnera­ ble Familienmitglieder aus dem gleichen Haushalt Geflüchtete sollen sich endlich selbst äussern. Les réfugiés doivent pouvoir s’exprimer eux-mêmes. © Selina Leu

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