ENSEMBLE Nr. / N° 62 - Oktober / Octobre 2021

23 ENSEMBLE 2021 /62 —– Fokus für den Familiennachzug berücksichtigt werden und in die Schweiz nachkommen dürfen». Mahtab Aziztaemeh, die mit ihrem Sohn in Bern-Bethle­ hem lebt, präzisiert: «Wenn die eigene Familie in Gefahr ist, können wir uns nicht auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Unser Herz und Kopf sind dann bei unseren Liebsten.» Bildung: Ein Gewinn für alle Auch in Bildungsfragen sind sich die Teilnehmen­ den des Flüchtlingsparlaments einig: Diese solle unabhängig vom Aufenthaltsstatus stärker geför­ dert werden. «Wer gebildet ist, findet leichter eine Arbeit. Und Arbeit erleichtert die Integration», sagt Mahtab Aziztaemeh. Viele Geflüchtete wür­ den sich stark anstrengen, um eine Arbeit zu fin­ den, weiss die 50-Jährige, die einen Master in persischer Literatur besitzt, aus eigener Erfahrung. Wenn die Schweiz diese Bemühungen mehr unter­ stützen würde, würden alle davon profitieren: «Wer arbeitet, bezahlt schliesslich auch Steuern.» Eine weitere Forderung betrifft die Situation von abgewiesenen Asylbewerbenden, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können und in der sogenannten Nothilfe leben. Menschen mit negativem Asylentscheid sollen gemäss dem Flüchtlingsparlament eine Ausbildung absolvie­ ren oder abschliessen können. Carsten Schmidt, Leiter der Fachstelle Migration bei den Reformier­ ten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, hat die Geflüch­ teten in der zuständigen vorberatenden Kommis­ sion beraten. Es gebe heute über 7000 Menschen in der Schweiz, die seit mehr als einem Jahr in der Nothilfe ausharren müssen. «Wir stellen eine gros­ se Verelendung bei den Langzeitbeziehenden von Nothilfe fest.» Carsten Schmidt begrüsst daher die Forderung des Flüchtlingsparlaments: «Die mit einer Ausbildung verbundenen Perspektiven – sei es in der Schweiz oder im Ausland – helfen diesen jungen Menschen, nicht in die absolute Verzweif­ lung abzugleiten.» Auch Andri Silberschmidt, FDP- Politiker und jüngstes Nationalratsmitglied, unter­ stützt diese Forderung. Er sagt anlässlich des Flüchtlingsparlaments: «Egal, wie der Asylent­ scheid herauskommt, eine Lehre soll abgeschlossen werden können.» Für ihn mache dies Sinn, unab­ hängig davon, ob die Person in der Schweiz bleibe oder in ihre Heimat zurückkehre. «Die Durchlässig­ keit des Schweizer Bildungssystems ist eine Stärke, die auch für Geflüchtete offenstehen soll.» Der Wunsch, gehört zu werden So klar die Forderungen an die nationale Politik sind, so herausfordernd ist allerdings die konkre­ te Weiterbearbeitung der Anliegen des Flücht­ lingsparlaments: «Das mediale Echo war gut», freut sich Mahtab Aziztaemeh. Doch müssten die verabschiedeten Vorschläge nun als Vorstösse ins nationale Parlament einfliessen. Hierfür brauche es beide Seiten, sagt Mahtab Aziztaemeh: Es sei die Aufgabe von Menschen mit Fluchterfahrung, die Öffentlichkeit und Politik zu ihren Anliegen zu sensibilisieren. «Was wir aber genauso brau­ chen, sind motivierte, mutige und mächtige Leu­ te, die unsere Anliegen in der Politik aufnehmen.» Bereits denkt das Organisationskomitee an eine erneute Durchführung des Flüchtlingsparlaments. Viele der Teilnehmenden seien bereit, sich auch künftig zu engagieren. Gemäss Mahtab Aziztae­ meh eint sie alle der Wunsch, «ernst genommen zu werden – und zwar nicht nur als Flüchtling, sondern als Mensch». Zehn finale Forderungen resultierten aus der Tagung. Dix mots d’ordre ont résulté de cette journée. © Selina Leu

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