ENSEMBLE Nr. / N° 64 - März / Mars 2022

9 ENSEMBLE 2022 /64 —– Doss i er fängt die Loge (grosser Holzschuppen) von La Chaux aux Reussilles jedes Jahr zeitnah zum Tag von Franz von Assisi Menschen mit ihren tierischen Gefährten für einen ökumenischen Gottesdienst. «Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen haben wir festgestellt, dass diese Art von Feier einem tief verankerten Bedürfnis der Gesellschaft entspricht. Es ist das Bedürfnis nach Bindung, das über eine rein utilitaristische Sicht auf die Tiere hinausgeht», erklärte die Pfarrerin nach dem Gottesdienst vom vergangenen Oktober. Für sie geht es vor allem darum, sämtliche Lebewesen zu segnen, an die bedingungslose Güte von Gott gegenüber der gesamten Schöpfung zu erinnern und schliesslich auch zu zeigen, dass der Mensch nicht über dem Tier steht, das vor ihm erschaffen wurde. Solche Gottesdienste werden sowohl in ländlichen Gegenden als auch in Städten durchgeführt. So veranstaltet etwa der Pfarrer Olivier Jelen Tiersegnungen im Tierheim Sainte-Catherine, dem Sitz des Waadtländer Tierschutzvereins. Veranstaltungen dieser Art finden auch in der Kirche Saint-François in Lausanne oder der Elisabethenkirche in Basel statt. Die Seele der Tiere Bei den meisten Reformierten herrscht heutzutage kein Zweifel daran, dass Tiere über eine Seele verfügen. «Mit Ausnahme der Zeit von Descartes, der das Tier als Maschine ansah, hat die Kirche immer zugestanden, dass Tiere eine Seele haben», betont die Pfarrerin von Tavannes. Diese sei allerdings lange Zeit als sterblich angesehen worden, führt Eric Baratay aus. Wie dem auch sei – dass Tiere Emotionen und Gefühle wie Angst oder Freude empfinden können, werde nicht mehr in Frage gestellt, hält Matthias Zeindler fest. Hingegen wird das Töten von Tieren nicht immer als Sünde angesehen, hat doch Gott sein Einverständnis gegeben, sie zu essen. In der Bibel findet man aber eine Reihe von Empfehlungen, die dazu führen sollen, dass Tiere nicht missbraucht werden oder bei der Tötung möglichst wenig leiden müssen. Es wird eine gewisse Mässigung gepredigt, aber wo findet diese ihre Grenzen? Eric Baratay führt aus, dass die Kirche Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt kein Problem sah in der Zucht und der industriell organisierten Schlachtung. Aber Achtung! Töten ist zwar ein Recht, aber dieses Privileg lädt Schuld auf. Deshalb war auch der Verzicht, Fleisch zu essen, in der Geschichte des Christentums und der verschiedenen religiösen Orden lange Zeit so wichtig. In der Gesellschaft ganz allgemein ging es auch darum, die Erlaubnis von Gott zu achten, indem man nur wenig Fleisch ass. Es gibt noch einiges zu tun Im Hinblick auf das Tierwohl wurden zwar in den letzten 40 Jahren sowohl in der Gesellschaft als auch im Christentum viele Fortschritte gemacht, aber es gibt doch noch einiges zu tun. Die Fortschritte sind zwar aufseiten der Katholiken noch bescheiden, aber historisch betrachtet erfolge der Paradigmenwechsel doch rasch, meint Eric Baratay. «Seit den 80er-Jahren ist man in Sachen Ausbeutung von Tieren sehr weit gegangen, es ist an der Zeit, davon wegzukommen. Noch vor 30 Jahren wäre die Enzyklika von Papst Franziskus undenkbar gewesen» – obwohl der Text beispielsweise bezüglich Vivisektion oder Tierversuchen keine konkreten Empfehlungen enthält und auch weniger weit geht als die reformierten Positionen. In der heutigen Gesellschaft scheint die Sensibilität gegenüber Schäden an der Umwelt ausgeprägter zu sein als die Sorge ums Tierwohl. «Die Ökospiritualität – eine Strömung, die aus der Enttäuschung über eine zu dogmatische und konservative Kirche entstanden ist, aber auch aufgrund der Wiederentdeckung eines Glaubens, der sich an meditativen Praktiken ausrichtet, und aufgrund der Gesellschaft, die sich rasch(er) entwickelt – spricht eine andere Bevölkerung an als jene, die wir in unseren Kirchen mehrheitlich vorfinden. Wir anderen Protestanten und Katholiken hinken in Sachen Verteidigung und Schutz von Tieren ein wenig hintennach», hält Françoise Surdez fest. Natürlich sei es immer möglich, mehr zu machen, sagt Matthias Zeindler. Aber das Problem der Klimaerwärmung lenkt die Aufmerksamkeit auch stärker auf die Folgen dieser Entwicklung für Menschen und Tiere. Philosophen wie der Australier Peter Singer haben übrigens ab den 70er-Jahren radikale Positionen gegen den Speziesismus und die willkürliche Diskriminierung gegenüber anderen Spezies eingenommen. Sie vertreten die Haltung, jedes Leben verfüge über dasselbe Recht. Diese Ideen haben zu einem Bewusstseinswandel geführt, und sie hinterfragen die privilegierte Stellung, die der Mensch unter den Geschöpfen innehat. Pour une cohabitation pacifique entre l’homme et l’animal. Für ein friedliches Zusammenleben von Mensch und Tier. © KEYSTONE / MAURITIUS IMAGES / Udo Siebig

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