21 ENSEMBLE 2022 /65 —– Fokus stützung hilft den Flüchtenden, nicht zu verhungern – aber viel mehr ist das nicht. Du warst auch im offiziellen Camp «Lipa». Wie ist die Situation dort? Lipa wurde nach europäischen Standards gebaut; die Menschen hausen zu sechst in Baracken, alles ist sauber. Trotzdem ist das Camp für Flüchtende keine langfristige Option. Das Lager liegt im Gebirge im Niemandsland, dreissig Kilometer von der Stadt Bihać und noch weiter von der Grenze entfernt. Für die Migranten ist es unmöglich, von dort aus über die Grenze zu kommen. Zudem gibt es nur einen offiziellen Transport hoch ins Camp, nicht aber zurück in die Stadt. Einheimischen ist es zudem untersagt, die Menschen im Auto mitzunehmen. Das gilt als Fluchthilfe und steht unter Strafe. Wo finden die Menschen denn sonst Unterschlupf? In Bihać hat uns ein Einheimischer herumgeführt und uns Unterschlüpfe gezeigt, in welchen Menschen unterkommen, die möglichst rasch die Grenze nach Kroatien überqueren wollen. In einem verlassenen Haus ohne Fenster etwa sind wir auf afghanische Menschen gestossen. Sie haben auf offenem Feuer gekocht, daneben standen Zelte. Die Menschen leben dort über Monate, einige schon seit mehr als einem Jahr. Sie haben schon mehr als zwanzig Mal versucht, über die Grenze zu kommen, und wurden immer wieder von der kroatischen Polizei zurückgeschickt. Sie haben uns geschildert, wie sie verprügelt wurden, zum Teil wurde ihnen alles weggenommen. Diese Erzählungen sind kein Einzelfall: Alle Geflüchteten, die wir trafen, berichteten von solch gewaltvollen Rückweisungen. Wie war es für dich, all diese Geschichten zu hören? Für mich war es krass zu erkennen, was die Menschen alles auf sich nehmen, um in die EU zu kommen. Die vielen Eindrücke haben mich immer wieder überwältigt. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein 17-jähriger Mann. Ihm wurde bei einem Pushback das Schlüsselbein gebrochen. Da kein Arzt sich um ihn kümmert, wächst das Schlüsselbein nun krumm zusammen. In solchen Situationen versteht man, warum die Leute schnell von hier wegwollen. Wie können die Menschen denn unterstützt werden? All die Hilfsangebote vor Ort sind gut und wichtig. Trotzdem wirkten der ganze Apparat, die Camps und die Hilfsstrukturen etwas hilflos. Die Migranten kommen immer wieder von der Grenze zurück, erleben Gewalt, werden von Freiwilligen wieder aufgepäppelt, bekommen neue Ausrüstung und probieren es wieder. Das Ganze ist eine neverending story. Wahrscheinlich gibt es nur eine Lösung: dass wir unsere Migrationspolitik ändern. Was heisst das konkret? Es ist für mich total unverständlich, warum eine Familie, die aus dem kriegerischen Afghanistan geflohen ist, nicht genauso schutzbedürftig ist wie Menschen aus der Ukraine. Bosnien liegt mitten in Europa, doch wir schirmen mit einer künstlichen Grenze das vermeintlich richtige Europa von den südlichen Ländern ab. Für mich ist klar: Gewaltvolle, menschenrechtswidrige Zurückweisungen an den Aussengrenzen der EU müssen aufhören. Was es braucht, sind sichere Fluchtrouten – und zwar zu allen Ländern in Europa. Wir müssen zudem schauen, dass die internationale Aufmerksamkeit nun nicht nur noch auf der Ukraine liegt. Gerade im Sommer werden wieder viele Menschen nach Bosnien kommen und versuchen, die Grenze nach Kroatien zu überqueren. Für diese Menschen braucht es ebenfalls Lösungen. Welche Rolle spielt die Schweiz in der ganzen Sache? Die Schweiz profitiert extrem vom Grenzschutz. Sie finanziert diese Abschottung zudem mit; zwar nicht direkt mit Geldern an die kroatische Polizei, aber durch die Finanzierung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Diese ganze Infrastruktur, die hier zur Verfügung gestellt werden muss, ist eine Folge davon, dass wir in der Schweiz und der EU keine andere Migrationspolitik wollen. Es grenzt an Wahnsinn, das wir das so zulassen. Für mich ist es unverständlich, für den Grenzschutz so viel Geld auszugeben und damit ein Problem zu schaffen, das dann mit anderen Geldern wieder gelöst werden muss. * Mitarbeiterin Fachstelle Migration Improvisierte Einrichtung. Aménagement improvisé. © Christian Walti
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